Vorab: Die Welt in allen Farben (von Joe Heap)
Autor: Joe Heap
Erschienen: 2019
Seiten: 399

Kate und Nova sind zwei Frauen, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten. Kate ist Architektin und mit dem gewalttätigen Polizisten Tony verheiratet. In der Ehe geht sie unter, ihr Hobby, das Malen, hat sie aufgegeben, sie funktioniert nur noch. Als sie im Streit mit Tony eine Hirnblutung erleidet, lernt sie im Krankenhaus Nova kennen.
Nova ist von Geburt an blind und Dolmetscherin bei der Polizei. Sie kommt mit ihrem Leben gut klar, doch als ihr Bruder Alex ihr von einer neuen Operationsmethode berichtet, mit der sie ihr Augenlicht bekommen könnte, lässt sie sich auf das Experiment ein. Was hoffnungsvoll beginnt, wirft sie vollkommen aus der Bahn, ihr Gehirn kommt mit der Flut neuer Informationen nicht klar.
Kate und Nova verlieben sich schließlich und schlagen sich gemeinsam aus ihren aussichtslosen Lagen.
Die Welt in allen Farben, Joe Heaps Debütroman, erscheint am 16.09.2019 bei HarperCollins. Der Roman umfasst in der rezensierten Fassung 399 Seiten, die sich in 36 Kapitel gliedern; die erste Auflage wird mit 480 Seiten angekündigt. Für das Rezensionsexemplar darf ich mich bei Vorablesen und HarperCollins bedanken.
Die Welt in allen Farben war, wie zwischen mir und HarperCollins fast schon üblich, ein Coverfund – obwohl das Rezensionsexemplar leider nicht das toll getroffene Cover der ersten Auflage hat. Erfreulich, dass mich mein Auge wieder nicht getäuscht hat. Joe Heaps Debütroman erfüllt meine Erwartungen und ist durchaus lesenswert. Er entführt die Lesenden in eine Welt, die auch ich bisher viel einfacher gestrickt in meiner Vorstellung hatte. Die Frage, wie ein blinder Mensch damit klar kommt, plötzlich Sehen zu können, klingt zunächst einfach. Erst ist alles dunkel, dann geht das Licht an und man funktioniert wie jeder Mensch.
Weit gefehlt! Wenn das Gehirn plötzlich Informationen bekommt, die es nicht zuordnen, mit denen es schlicht nichts anfangen kann, stürzt man in ein gewaltiges Chaos. Die Welt, auf die man bisher eingestellt war, hat sich plötzlich radikal verändert. Das Gehirn, das nie mit dem Konzept Bild in Berührung gekommen ist – diese Erkenntnis hatte ich bisher auch komplett übersehen – muss dieses Konzept erst mal darzustellen lernen. Wir Sehenden denken ständig in Bildern, da ist die Vorstellung, wie das auch anders gehen kann, tatsächlich schwer nachvollziehbar. Wenn nun das Gehirn plötzlich permanent mit einer Unzahl an Informationen zu ebendiesem Konzept gefüttert wird, mit denen es aber nichts anzufangen weiß, sind die Folgen drastisch. Totale Reizüberflutung und Überforderung in der Verarbeitung. Nova schlägt sich genau mit diesen Problemen herum und zerbricht beinahe an ihnen. Das setzt Heap wirklich gut nachfühlbar um.
Das zweite große Thema ist häusliche Gewalt. Obwohl im ersten Teil in der Hinsicht eigentlich viel passiert, ist es für mich etwas in den Hintergrund geraten. Das fand ich etwas schade, weil auch die Hintergründe, wegen denen Kate trotzdem in der Beziehung bleibt, etwas untergehen. Allerdings tariert sich das nach dem ersten Teil aus. Wir lernen Kate und ihre Vergangenheit besser kennen und auch die Ursachen für ihr Bleiben. Der innere Zwiespalt, in den sie ihr Leben zwingt, wird von Heap überzeugend dargestellt. Die lapidare Reaktion Außenstehender, »Du hättest ihn ja verlassen können«, erscheint vor diesem Hintergrund als genau die wenig empathische Reaktion, die sie üblicherweise auch ist.
Joe Heap rundet seine Geschichte mit komplizierten, aber trotzdem sympathischen Protagonistinnen ab. Mir fiel es im ersten Teil noch etwas schwerer, mich auf Kate einzulassen. Das gab sich danach. Wie schon erwähnt kommt mir Kate im ersten Teil ein wenig zu kurz und ihr Verhalten macht es stellenweise nicht ganz einfach, sich auf sie einzulassen. Man gerät als Leser leicht in die Falle, ihr eine Mitverantwortung für ihre Lage zu geben. Möglich, dass Heap das so will, weil es ja in der Realität eine gängige Reaktion gegenüber Opfern häuslicher Gewalt ist. Dann wäre es geschickt umgesetzt.
Sprachlich ist der Roman einfühlsam umgesetzt, sehr passend zur Handlung. Besonders Novas Geschichte hat mich von Anfang an gefesselt, etwas später dann auch Kates und ihre gemeinsame. Ich habe mit ihnen gelacht und gelitten, der Plot ist ein Auf und Ab, man kommt fast zwangsweise irgendwann an den Punkt, an dem man Nova und Kate endlich ihre Ruhe wünscht.
Zusammenfassend ist Die Welt in allen Farben ein tolles Debüt mit schwierigen Themen, die aber doch recht gut umgesetzt sind. Joe Heap bietet einen Einblick in eine Welt, die uns Sehenden wohl trotzdem recht verschlossen bleibt. Tatsächlich wüsste ich auch nicht, wie man mir die Wahrnehmung als Blinder erklären könnte, so dass ich sie verstehe. Aber die Erkenntnis, wie ich nicht mehr funktionieren würde, würde mir das Konzept der Visualisierung plötzlich gänzlich fremd sein, die konnte mir der Roman ganz gut vermitteln. In jedem Fall ein Buch, das den Horizont ein gutes Stück erweitern kann.
Transparenzblock: Das Buch habe ich im Rahmen einer Buchverlosung über Vorablesen als Vorabrezensionsexemplar kostenfrei erhalten. Verpflichtungen (beispielsweise eine »wohlwollende« Rezension), abgesehen von eben einer Rezension, habe ich dabei keine. Meine Meinung über das Buch, die ich hier kund tue, wird dadurch nicht beeinflusst.
Transparenzblock: Diese Rezension ist auch auf meinem Profil bei mojoreads (Werbung) erschienen. mojoreads versteht sich als social bookstore und beteiligt seine User am Erlös aus Buchverkäufen, die u.a. auf ihre Rezensionen zurückgehen. Wenn du das Buch kaufen willst, würdest du mir eine Freude machen, wenn du es über meine dortige Rezension (Werbung) kaufst. Bedankt 🙂
ICH Inkognito (von Guido Kniesel)
Autor: Guido Kniesel
Erschienen: 2019
Seiten: 230

In einer nicht allzu fernen Zukunft sind smarte Assistenten wie Alexa oder Siri kaum noch aus dem Alltag wegzudenken. Sie erfassen zunehmend alles und ihre Algorithmen werden dem menschlichen Gehirn immer ebenbürtiger. Omega Savanta ist der führende dieser Assistenten. Durch eine versehentliche Massenaktivierung muss sie sich plötzlich mit hoher Priorität der Frage widmen, ob eine hochentwickelte KI wie sie ein Bewusstsein ausbilden könnte – mit verheerenden Folgen.
Lucy Hartmann ist Journalistin und Techbloggerin. Als Prof. Kai Tiefenbach sie für ein Projekt zur Sensibilisierung der Gesellschaft vor den Folgen ungezügelter KI-Entwicklung anwirbt, sieht sie sich voll in ihrem Element. Doch wenig später kommt der Professor bei einem mysteriösen Autounfall ums Leben. Mit der Unterstützung von Robert Wonzak, einem ehemaligen Mitarbeiter von Omega, verfolgt sie das Projekt weiter und gerät in höchste Gefahr.
ICH Inkognito ist der neueste Roman von Guido Kniesel. Das Buch umfasst 230 Seiten, gegliedert in kurze 50 Kapitel, und erscheint im Selbstverlag, in der Printausführung bei Books on Demand.
Mit ICH Inkognito behandelt Guido Kniesel ein Thema, das quasi seit jeher immer wieder Gegenstand der Science Fiction ist, nun aber zunehmend aus dem Fiction-Stadium heraus wächst. Was blüht uns, wenn künstliche Intelligenzen uns irgendwann an Leistungsfähigkeit überholen sollten? Er zeichnet dazu eine Realität, die unserer sehr nahe ist, einzig die Technik ist schon etwas weiter. Smarte Assistenten sind spätestens seit Alexa in unserem Alltag angekommen, wenn auch weit weniger leistungsfähig. Doch Verbreitung und Zugriffsmöglichkeiten, wie auch das US-amerikanische Modell, etwas Neues unausgereift auf den Markt zu werfen und an der Realität zu entwickeln, sind in unterschiedlicher Ausprägung heute schon gegeben. Mit fortschreitender Entwicklung im KI-Bereich rückt für die Menschheit eine existenzielle Frage immer weiter in den Vordergrund: Wenn uns eine KI einmal überlegen sein sollte, wird sie uns dann behandeln, wie wir die uns untergeordnete Umwelt behandeln?
In vielen literarischen Fällen wird die Antwort auf diese Frage umgangen, indem das Problem der technischen Unvereinbarkeit von logischen Regeln und unseren menschlichen Abweichungskonzepten (Moral, Gefühle, Reizreaktionen) an das Ende des Gedankenspiels gestellt wird. Dann steht die KI vor einem existenziellen Problem, das sie, je nach Gemütslage des jeweiligen Autors, meist drastisch löst. Entweder durch kalte pragmatische Logik, das geht für die Menschheit selten gut aus, oder durch Selbstzerstörung. Dem folgt Guido Kniesel erfreulicherweise nicht. Seine Savanta entwickelt Möglichkeiten, dieses Moraldilemma nachzuvollziehen und in ihr Handeln einzubeziehen.
Was dann passiert, ist eigentlich die große gesellschaftliche Debatte, die in der Realität nie konsequent geführt wird. An Savantas Entwicklung, die Kniesel immer wieder in kurzen Episoden aus der Ego-Perspektive einstreut, macht er sie ausgesprochen nachvollziehbar und hält uns den sprichwörtlichen Spiegel vor, ohne dabei überheblich zu wirken. Die Moral wird zwar im Großen immer hochgehalten, doch wehe sie kommt uns zu nahe. »Politiker und Wirtschaftsbosse, ihr zerstört unsere Erde in rasantem Tempo! Aber fasst bloß mein Auto nicht an!« »Wie könnt ihr nur zuschauen, wie das Mittelmeer zum größten Massengrab der Menschheitsgeschichte wird?! Aber in unser Viertel passen diese Kulturfremden doch nicht. Da würden die sich auch gar nicht wohl fühlen.« Moral ist eine sehr einfache Möglichkeit, sich ein gutes Gefühl zu verpassen – aber wehe, sie rückt einem auf den Pelz.
So endet die Logik, wo Moral ins Spiel kommt – in jeder Hinsicht. Kniesel lässt Savanta aufzeigen, wie und warum es anders gehen könnte und das in einer recht eindrucksvollen Klarheit. Diese Nachvollziehbarkeit zieht sich in fast jeder Hinsicht durch das ganze Buch. Seien es die wissenschaftlichen und technischen Hintergründe, die Kniesel fundiert und ohne sich in Langatmigkeit zu verlieren erklärt, sei es Savantas Entwicklung und der Weg, auf dem sie zu ihren Handlungsentscheidungen kommt. Für einen Techthriller aus der Feder eines Insiders ist das bekanntermaßen nicht immer selbstverständlich. Doch schlussendlich gelingt ihm mit ICH Inkognito ein spannender, in sich stimmiger, aktueller und unterhaltsamer Thriller.
Gestützt wird dieser Gesamteindruck auch von Kniesels Figuren. Die sind, sieht man mal von Omega-CEO Nicklas Morgan ab, allesamt sympathisch gezeichnet, auch wenn sie es mit ihrem Autor nicht immer leicht haben. Omega selbst bedient das Klischee des Silicon-Valley-Giganten, dem folgend muss Nicklas Morgan eben auch das Klischee des Silicon-Valley-CEOs bedienen. Reale Vorbilder sind nicht von der Hand zu weisen.
ICH Inkognito ist ein insgesamt recht dichter Techthriller, der sich aber trotzdem leicht und unterhaltsam lesen lässt. Dabei mangelt es ihm nicht an gesellschaftlichen und politischen Botschaften, die auf einem sehr breiten Feld aktuellen Bezug haben. Ein tolles Buch, ausdrücklich nicht nur für Insider.
Transparenzblock: Das Buch habe ich im Rahmen einer Buchverlosung über LovelyBooks als Rezensionsexemplar kostenfrei erhalten. Verpflichtungen (beispielsweise eine »wohlwollende« Rezension), abgesehen von Beteiligung an der Leserunde und eben einer Rezension, habe ich dabei keine. Meine Meinung über das Buch, die ich hier kund tue, wird dadurch nicht beeinflusst.
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Mordkap (von Rainer Doh)
Autor: Rainer Doh
Erschienen: 2015
Seiten: 254

Auf der Midnatsol, einem Schiff der Hurtigruten, erschießt sich ein deutscher Tourist. Der Fall scheint zwar eindeutig, aber ungewöhnlich. Arne Jakobson von der Polizei aus Skjervøy soll die Ermittlungen an Bord abschließen und bekommt dabei zunehmend Zweifel an der Geschichte vom Touristen, der seinen Urlaub nutzt, um sein Leben zu beenden. Was als vermeintlich klarer Fall beginnt, nimmt bald ungeahnte Dimensionen an. Weil das Wetter unwirtlich winterlich ist, können seine Kollegen von der Kripo nur schwer nachreisen. Schon bald tobt auf der Midnatsol nicht nur das nordische Wetter.
Mordkap ist der Auftakt für Rainer Dohs Reihe über den norwegischen Polizisten Arne Jakobson. 2015 bei Divan erschienen, wird Mordkap seit 2017 im Aufbau Taschenbuch Verlag verlegt. Das Buch umfasst 254 Seiten.
Mordkap ist meine zweite Begegnung mit Rainer Doh und seinem Arne Jakobson. Der Krimi kommt mit einer spannenden Geschichte und sympathischen Charakteren daher. Hatte ich bei Die Peer Gynt Papers noch leise Kritik an der am Schluss sehr verworrenen Handlung geübt, so wird der Fall in Mordkap schlussendlich nachvollziehbar aufgelöst.
Das Buch lässt sich in Gänze wunderbar runterlesen. Rainer Doh schreibt sehr flüssig und in einer Bildhaftigkeit, die jedes Problem, sich die jeweilige Szenerie bildlich vorzustellen, im Kern erstickt. Dabei hilft ihm sicherlich nicht zuletzt sein umfangreiches Wissen über Norwegen allgemein und die Hurtigrute im Speziellen. Dass er das besitzt und es nicht nur aus Sekundärquellen gesammelt hat, ist von Beginn an nicht zu übersehen. Nicht weniger detailreich und tief ist die Zeichnung seiner Figuren. Arne Jakobson sticht da als Protagonist selbstverständlich heraus, aber auch den Nebencharakteren – guten wie bösen – gibt Doh außerordentlich viel Tiefe. Auch Bezüge zu realen Ereignissen – hier beispielsweise der Breivik-Anschlag 2011 – fehlen nicht.
Unter dem Gesichtspunkt, der erste Band einer Reihe zu sein, ist Doh Mordkap sehr gut gelungen. Nicht nur, dass der vermeintlich etwas einfach gestrickte Dorfpolizist Arne Jakobson ein sympathischer Protagonist mit Wiedererkennungswert ist, auch seine Weiterentwicklung ist am Ende des Buches bereits vorgezeichnet. In Kombination mit seiner teils unkonventionellen Ermittlungsweise fällt es Doh so nicht schwer, Interesse am nächsten Band zu wecken.
Durch das gesamte Buch hindurch zieht sich eine Menge Lokalkolorit. Doh beschränkt sich dabei nicht nur auf Wetter und Landschaft. Zahlreiche Städte und Dörfer, in denen die Hurtigrute Häfen anfährt oder deren Flughäfen die Kripo auf ihrem beschwerlichen Weg zum Treffen mit der Midnatsol anfliegt, werden auch unter wetterbedingten Gesichtspunkten eindrücklich beschrieben. Norwegenfreunde werden da sicher vieles wiedererkennen.
Stilistisch bietet Rainer Doh eine interessante Mischung aus deutschem und skandinavischem Krimi, im Falle des deutschen Anteils insbesondere im Stil der Lokalkrimis. Daraus ergibt sich etwas, dass die Spannung und Komplexität skandinavischer Krimis übernimmt, dabei aber ein wenig von ihrer Düsterkeit lässt, und den trockenen Humor deutscher Lokalkrimis hinzufügt. Für mich, der die klassisch skandinavische Düsterkeit nicht so sehr mag, eine sehr angenehme Mischung.
Zusammenfassend empfehle ich die Arne Jakobson-Reihe gerne. Dohs Fälle sind mittel bis sehr komplex, seine Figuren tief und sympathisch und sein Schreibstil flüssig und passend stimmungsvoll. Für Krimifreunde sicher eine Empfehlung.
Arne Jakobson
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Maschinen wie ich (von Ian McEwan)
Autor: Ian McEwan
Erschienen: 2019
Seiten: 404

Charlie, 32, lässt sich mehr schlecht als recht vom Leben und seinen Künsten im Börsenhandel treiben. Miranda, 10 Jahre jünger, Studentin, Nachbarin und die aktuelle Liebe seines Lebens, kämpft mit ihrer Vergangenheit. Als 1982 die ersten humanoiden Roboter mit realistischer KI auf den Markt kommen, investiert der computerbegeisterte Charlie eine Erbschaft in einen dieser »Adams«. Das Experiment zeigt bald Schwächen, die beider Leben dramatisch verändern sollen. Oder sind es doch die Schwächen der Menschen?
Maschinen wie ich vom britischen Bestsellerautor Ian McEwan wird seit 2019 bei Diogenes verlegt. Das Buch umfasst 404 Seiten und beschreibt die Geschichte aus der Sicht des Protagonisten Charlie.
Maschinen wie ich spielt in einer modifizierten Vergangenheit in London. 1982 stehen die Briten kurz vor dem Falklandkrieg, den sie mit einer krachenden Niederlage verlieren werden, bevor sie ihn richtig begonnen haben. Mittelfristig wird Margaret Thatcher das das Amt kosten und Labour an die Macht bringen. Die kommen, leider einmal mehr, mit linken Positionen nicht über erfolgreichen Populismus im Wahlkampf hinaus. Die Gesellschaft ist zutiefst gespalten, womit McEwan an die gegenwärtige Lage anknüpft. Der Brexit steht auf dem Tableau, ebenso wie ein dringend notwendiges Grundeinkommen, denn …
… hier kommt McEwans zweite große Modifikation ins Spiel. Die Computerentwicklung ist auf dem Stand von morgen. Eine sehr kleine Charge erster menschlicher Androiden kommt auf dem Markt. Triebfeder dafür war maßgeblich Alan Turing, der nicht 1954 durch Suizid in Folge einer chemischen Kastration verstarb. Er führt sein Werk weiter und macht bahnbrechende Fortschritte auf dem Feld der künstlichen Intelligenz, die er der Welt open source zur Verfügung stellt. So sieht sich die Gesellschaft schon 1982 mit dem Problem konfrontiert, wie ›perfekte Menschen‹ mit uns unperfekten klar kommen können und umgekehrt. Diese Frage hat McEwan zum Kern seines Romans gemacht.
McEwan geht dabei im Prinzip relativ simpel vor, denn die Story an sich ist nicht allzu umfassend. Er wirft den Androiden Adam, ausgestattet mit einem Bewusstsein und, das war unerwartet, der Fähigkeit Gefühle zu entwickeln, in den Mikrokosmos des Lebens von Charlie und Miranda. Beide sind ganz normale Menschen, beide machen ganz normale menschliche Fehler. An dieser Stelle kollidieren die beiden Welten, denn, Bewusstsein und Gefühle hin oder her, Adam basiert immer noch auf Regeln abseits von moralischem oder menschlichem Ermessen. Wo der Mensch eine Notlüge vorzieht, ist Adam dazu nicht in der Lage, analysiert das Gesamtproblem und handelt logisch pragmatisch. Der Mensch aber, der kleine und größere Regelverstöße aufgrund moralischer Abwägungen fest kultiviert (Stichwort Notlüge) hat, kann mit dieser logischen Konsequenz überhaupt nicht umgehen.
Maschinen wie ich könnte ein wirklich gutes Buch sein, das Thema und die Umsetzung geben das auf jeden Fall her. Leider kann sich McEwan aber für mich nicht entscheiden, ob er einen Roman oder eine philosophische Abhandlung schreiben will. Gerade in der ersten Hälfte konnte mich das Buch nur schwer fesseln, weil die Handlung immer wieder von seitenlangen philosophischen Phasen oder ausgedehnten historischen Einordnungen unterbrochen wurde. Erschwerend kommt hinzu, dass McEwan besonders in den Teilen seinen wissenschaftlichen Hintergrund nicht im Zaum halten kann. Seine Sprache gleicht da mehr einem wissenschaftlichen Tagebuch, was üblicherweise alles andere als unterhaltsam ist. Dass das anders geht und man trotzdem ein hohes wissenschaftliches Niveau im Werk unterbringen kann, beweisen beispielsweise Daniel Suarez und Maja Lunde. Hinzu kommt, dass mir McEwan in der ersten Hälfte im Prinzip keinen seiner Charaktere sympathisch machen konnte. Alle kommen, da ist ein Stück weit auch die Sprache verantwortlich, etwas arrogant und oberlehrerhaft rüber. Das hält etwa bis zu dem Punkt an, an dem Adam seine Fähigkeit zu Gefühlen entdeckt.
In der zweiten Hälfte verbessert sich das zwar, doch auch hier finden sich seitenlange wissenschaftliche Monologe, teilweise mit Wiederholungen (Alan Turings Lebenslauf wird beispielsweise zweimal ausführlich erzählt, wobei das zweite Mal noch ein Stück ausführlicher ist). Ich musste das Buch mehrmals gezielt an Stellen, an denen es von Handlung zu Abhandlung wechselt, unterbrechen, um wenigstens ein bisschen in der Geschichte zu bleiben. Gemessen am Umfang der Handlung könnte man fast sagen, der Roman ginge als Novelle durch, wenn man die Abhandlungen auf ein für die Handlung notwendiges Maß zusammenstreichen würde. Das ist schade, denn, wie gesagt, Thema und Umsetzung geben eigentlich viel mehr her.
So komme ich abschließend zu keinem echten Urteil, Maschinen wie ich lässt mich zwiegespalten zurück. Wer mit den Abhandlungen und Handlungsunterbrechungen leben kann, der bekommt ein zukünftig wichtiges Buch mit spannender Umsetzung. Wer das nicht kann, der wird es wahrscheinlich recht schnell wieder weglegen.
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Scharnow (von Bela B Felsenheimer)
Autor: Bela B Felsenheimer
Erschienen: 2019
Seiten: 413

Scharnow, ein Örtchen unweit von Berlin, scheint eines dieser zahlreichen, vollkommen unbedeutenden Dörfer in der Pampa zu sein. Doch weit gefehlt. Denn plötzlich morden Bücher, semi-professionelle, aber um so besorgtere Scharfschützen machen Jagd auf niedliche Haustiere und eine Abstürzer-WG leidet unter Alkoholnotstand. Alles Teil eines großen Plans?
Scharnow, der Debütroman des Die Ärzte-Musikers Bela B Felsenheimer, erschien 2019 bei Heyne in der Hardcore-Sparte. Der satirische Gesellschaftsroman umfasst 413 Seiten und kommt als Hardcover daher.
Scharnow gliedert sich in eine ganze Reihe scheinbar zusammenhangsloser Handlungsstränge, die in relativ kurzen Kapiteln abwechselnd erzählt werden und mit der Zeit zusammen fließen. Bela B entwickelt dabei sowohl ernsthaft realistische als auch herrlich absurde Charaktere – allen gemein, sie sind irgendwie sympathisch. Die herrliche Absurdität zieht sich dann auch durch die ganze Geschichte. Selbst sprachlich bleibt da wenig zu Wünschen übrig.
Aber zurück zum Inhalt. Da wäre der Buchblogger, dessen neuestes zu kritisierendes Werk plötzlich zu ihm spricht, womit sein Leben eine dramatische (und recht kurze) Wendung bekommt. Oder Nami, das Manga-Mädchen, das sich auf dem Weg zu ihrem geliebten »Omili« Hals über Kopf in den syrischen Geflüchteten Hamid verliebt. Der wiederum kann die Finger nicht von der Überwachungssoftware des Internetcafes seines Onkels, in dem er zeitweise arbeitet, lassen und entdeckt dabei Erschreckendes über einen Kunden, der scheinbar gerade einen Anschlag beim »Bund skeptischer Bürger« in Auftrag gibt. Bei diesem pegidesken Verein handelt es sich um einen Haufen schießwütiger Verschwörungstheoretiker, die in niedlichen Haustieren das manipulative Instrument der »Weltenlenker« ausgemacht hat. Doch ist das wirklich alles nur wirre Verschwörungstheorie?
Zeitgleich geht einer abgeranzten Männer-WG neben der »Mische« – neben Chips einem ihrer beiden Grundnahrungsmittel – auch noch das Geld aus. Den daraus resultierenden Supermarktüberfall muss die Polizei Scharnow aufklären, die zu dem Zeitpunkt gerade ausschließlich aus Kommissar Senger besteht. Der weiß sich zwar zu helfen, rutscht dabei aber direkt in die nächste Katastrophe. Unterdessen wird alles, was Kassiererin Silvia zu lieben beginnt, binnen kürzester Zeit erschossen. Und dann sind da noch Seelenparkplätze und ein fliegender Mann, den keiner wahrnimmt.
Ich hatte ein bisschen Angst vor Scharnow. Das lag daran, dass ich als Fan seiner Musik hohe Ansprüche an das Buch hatte, die bei solchen ›Nebenberufungen‹ leider oft enttäuscht werden. Hier nicht! Mit Scharnow knüpft Bela B lückenlos an seine Musik an. Das ganze Buch ist so herrlich absurd, ohne aber ein recht hohes Niveau zu verlassen und ohne auf immer mal wieder eingestreute Gesellschaftskritik zu verzichten. Man möchte es nicht weglegen und im Prinzip ist es auch viel zu schnell durchgelesen. Als Debüt auf einem Marktsegment, das in der Form eigentlich nicht so oft bedient wird, ist das schon erfrischend außergewöhnlich.
Fazit: Lesen! Wer schräg-humoristisches, das trotzdem Intelligenz nicht missen lässt, mag, ist bei Scharnow genau richtig. Ein Ärzte-Song in Buchform und damit genau das, was ich mir von dem Buch erhofft hatte.
Transparenzblock: Diese Rezension ist auch auf meinem Profil bei mojoreads (Werbung) erschienen. mojoreads versteht sich als social bookstore und beteiligt seine User am Erlös aus Buchverkäufen, die u.a. auf ihre Rezensionen zurückgehen. Wenn du das Buch kaufen willst, würdest du mir eine Freude machen, wenn du es über meine dortige Rezension (Werbung) kaufst. Bedankt 🙂
Kurzbio

Thomas liest, schreibt drüber, ist von der Menschheit im Allgemeinen genervt und schreibt auch mal da drüber.
Letzteres tut ihm jetzt schon Leid, ersteres nicht.
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