Zeitoun (von Dave Eggers)
Autor: Dave Eggers
Erschienen: 2012
Seiten: 368

Zeitoun (sprich: Seytuun) kommt aus meiner ›Was ich mich noch nicht zu lesen getraut habe‹-Schublade. Dort fristete der Tatsachenbericht, zusammen mit noch einigen anderen früheren Werken von Dave Eggers, ein kuscheliges Leben. Jetzt fehlt mir ein wenig der aktuelle Nachschub, also gehe ich die mal an.
Das Buch erzählt die traumatischen Erlebnisse der Familie Zeitoun aus New Orleans im Rahmen von Hurrikan Katrina im Sommer 2005. Abdulrahman (sein Rufname ist sein Nachname) und Kathy Zeitoun führen einen erfolgreichen Handwerksbetrieb, sind angesehen in New Orleans, bis Katrina ihr Leben auf den Kopf stellt. Als sich der Hurrikan ankündigt, verlässt Kathy mit den vier Kindern die Stadt, um sich in Sicherheit zu bringen. Zeitoun lässt sich nicht überzeugen, mit ihnen zu kommen, er will auf ihre zahlreichen Immobilien aufpassen und sichert noch bis zum letzten Moment die Häuser seiner Kunden.
Als Katrina die Stadt schließlich viel härter, als erwartet, getroffen hat, schnappt sich Zeitoun sein Kanu und paddelt durch die überschwemmte Stadt, immer auf der Suche nach Menschen und Tieren, denen er helfen kann. Kathy und sein Bruder Ahmed, durch allerlei Horrornachrichten in immer größerer Sorge, beknien ihn, die Stadt zu verlassen, doch Zeitoun muss helfen. Dann verschwindet er plötzlich und das Martyrium der Familie beginnt.
Zeitoun entstand aus dem Buch Voices of the Storm des Projekts Voice of Witness. Das Projekt erzählt die Geschichten von Zeitzeugen von Menschenrechtsverletzungen. Voices of the Storm befasst sich mit den ausufernden Menschenrechtsverletzungen in der Folge von Hurrikan Katrina in New Orleans, als die frisch ins noch relativ junge Department of Homeland Security eingegliederte US-Katastrophenschutzbehörde FEMA vollständig die Kontrolle über das Chaos vor Ort verlor. In der Folge kam es zu rassistischen Verhaftungen, Folter, Inhaftierungen nach Vorbild des Patriot Acts und anderen Menschenrechtsverletzungen durch Behörden und Sicherheitskräfte. Vieles erinnerte an das Folterlager Guantanamo.
Dave Eggers erzählt nun, gesichert und so authentisch wie möglich, insbesondere die Geschichte von Zeitoun, der am 6. September mit drei anderen Männern in einem seiner Mietshäuser von einem wild zusammengewürfelten Trupp aus Polizei, Nationalgarde und anderen ohne rechtsstaatliche Grundlage verhaftet und zunächst in das provisorische Gefangenenlager Camp Greyhound verschleppt wird. Häftlingsrechte werden ihm verwehrt, auch Kathy erfährt nichts von dem Vorgang. Eggers erzählt die Geschichte nach Bedarf im Wechsel aus Zeitouns und Kathys Sicht. Sein Stil ist der Geschichte angemessen, er beschönigt nichts noch verliert er sich in langatmigen Details. Insofern fiel es mir einerseits nicht schwer, mich in die Protagonisten hinein zu fühlen, andererseits sehr schwer, das Buch zur Seite zu legen. Das Wissen, dass das Gelesene so stattgefunden hat, macht es an nicht wenigen Stellen recht schwer zu ertragen.
Zeitoun ist ein Beleg dafür, wie dünn die Zivilisationsdecke sein kann. Erschwerend kommt dabei hinzu, dass das Szenario um Katrina nicht im rechtsfreien Raum stattgefunden hat. Natürlich war die fatale Überforderung der FEMA-Führung ein Ausnahmezustand, der so nicht eintreten darf. Die rechtlichen Grundlagen für das, was dann vor Ort im Sicherheitsapparat passierte, existieren aber tatsächlich – jedenfalls als Vorlage. Insofern muss man, selbst wenn die Anwendung dieser Rechtsgrundlagen im konkreten Fall illegitim gewesen sein sollte, immer im Hinterkopf behalten, dass die Sicherheitskräfte nicht im luftleeren Raum freigedreht haben. Im Zweifel haben sie sich auf die Gesetzgebung gestützt und wähnten sich dabei im Recht. Das kann eben in der Form auch nur passieren, wenn man derart repressive Gesetzeslagen, wie etwa die US-amerikanischen sog. Antiterrorgesetze eine sind, hat. Das mag, während ein Ausnahmezustand eskaliert, erstmal nebensächlich sein, für die juristische Aufarbeitung ist es aber sehr problematisch.
Zusammenfassend: Nicht unbedingt leichte Kost, aber sehr gut umgesetzt und geschrieben. Zeitoun ist ein nicht unwichtiges Zeitdokument über ein dunkles Kapitel US-amerikanischer Justiz.
Transparenzblock: Diese Rezension ist auch auf meinem Profil bei mojoreads (Werbung) erschienen. mojoreads versteht sich als social bookstore und beteiligt seine User am Erlös aus Buchverkäufen, die u.a. auf ihre Rezensionen zurückgehen. Wenn du das Buch kaufen willst, würdest du mir eine Freude machen, wenn du es über meine dortige Rezension (Werbung) kaufst. Bedankt 🙂
Kleine Änderungen im Programm
Eineinhalb Jahre besteht mein Blog jetzt – jedenfalls inhaltlich – in der aktuellen Form. Zeit, mal wieder zu reflektieren, was mir gefällt, was funktioniert und was nicht. Die COVID-19-Phase drängt mir den Schritt quasi auf, denn ihr Beginn war auch hier eine mittelgroße Zäsur. Wochenlang gab’s gar nix bzw. nur noch die paar schon vorbereiteten Rezensionen. Auch die Rumpelkammer ist quasi von einem Tag auf den nächsten komplett eingeschlafen. Das war alles etwas anders geplant.
Jetzt, wo ich so langsam wieder hochfahre – von meiner normalen Form bin ich offensichtlich noch weit weg -, wird es Zeit, Resümee zu ziehen.
Das erste Opfer wird die Sternebewertung. In der Rumpelkammer hatte ich das schon angedacht, sie stresst mich einfach und sie ist, weil ich fast nur Bücher lese, die mir auch gefallen, kaum aussagekräftig. Bis auf zwei oder drei sind meine Rezensionen im Kern alle Empfehlungen, also im Bereich von (gerundet) vier bis fünf Sternen. Ich hatte das System damals eingeführt, weil ich auf den verschiedenen Plattformen, auf denen meine Rezensionen neben dem Blog erscheinen, Sternebewertungen abgeben muss, da liegt es nahe, die Information auch hier zu teilen. Aber durch die präzisere Bewertung – Plattformen 5 Stufen, hier 5*10 – fühle ich mich genötigt, hier auch präziser zu bewerten. Langer Rede kurzer Sinn, es macht keinen Spaß, es sagt fast nix aus, es fliegt raus. Zeitnah, sobald ich einen Weg beschlossen habe, die bestehenden Bewertungen auszublenden, ohne sie aus jedem einzelnen Post händisch löschen zu müssen.
Die nächste Änderung betrifft die Rezensionen selber und ist eher formaler Natur. Den bibliografischen Block werde ich in Zukunft streichen. Die Informationen stehen weitgehend sowieso redundant im Meta-Block und seinen ursprünglich angedachten Sinn als inhaltlicher Trenner zwischen Inhaltsangabe und Rezension hat er nie erfüllt, weil ich von Anfang an meistens auch noch einen Absatz darunter für den Inhalt benutzt habe.
Insgesamt wird die Form der Rezensionen etwas fluider. Ich werde nicht mehr strikt nach Schema – Absatz 1 Inhalt, Absatz 2 Bibliografie, Absatz 3 zusätzlich Inhalt, Absätze 4 bis n-1 Rezension, Absatz n Fazit – strukturieren, somdern mich danach richten, wie es am besten zum Buch passt. Das ist eine Folge aus den BlackBooks, bei denen mir das bisherige Format nicht passend erschien. Außerdem bin ich faul und im Prinzip stört mich schon die ganze Zeit, dass insbesondere der bibliografische Block auf vielen Drittplattformen so gar nicht ins Konzept passt. Ich werde mich da also etwas freier machen.
Die nächste Änderung betrifft die Rumpelkammer und ist eine konzeptionelle. In der bisherigen Form werde ich die nicht fortsetzen. In Zukunft wird die eine Art Gelegenheitsblog für Themen, die nicht in die Buchblogecke passen – letztendlich also das Gleiche wie jetzt, nur pointierter und ohne die Regelmäßigkeit eines (eingeschlafenen) Tagebuchs. Ich denke, das funktioniert besser.
So, das wäre erst mal das kurzfristig Anstehende. Jetzt muss ich technisch nur noch umsetzen, was umgesetzt werden muss. Tja…
Queenie (von Candice Carty-Williams)
Autor: Candice Carty-Williams
Erschienen: 2020
Seiten: 544

Queenies Leben ist eine halbe Katastrophe. In ihrer Zeitungsredaktion arbeitet sie eher halbherzig und ihre Beziehung mit Tom hängt an einem dünnen Faden, ohne dass es ihr auffällt. Als der schließlich reißt, stürzt sie ab. Es folgt ein wahlloses Sexdate nach dem anderen, allen gemein, dass Queenie ausgenutzt wird. Am tiefsten Punkt wird sie in der Redaktion suspendiert, muss wieder bei ihren Großeltern einziehen – und reißt das Ruder rum.
Queenie ist der Debütroman der britischen Schriftstellerin Candice Carty-Williams. Das Buch erschien in der deutschen Übersetzung am 18.08.2020 im Aufbau Verlag. Es umfasst 544 Seiten, die sich in 30 Kapitel gliedern. Für mein Rezensionsexemplar darf ich mich beim Verlag und NetGalley bedanken.
»Schwarze Bridget Jones«, so wollte die Sunday Times Queenie feiern. Carty-Williams hat dem widersprochen, Queenie sei zu politisch, weil sie ist, wer sie ist, und könnte so nie eine Bridget Jones sein. Und das trifft es. Queenie ist die Geschichte eines Katastrophenjahres einer jungen Schwarzen Frau in London. Queenie ist ein politisches Statement und zwar insbesondere eines für die Schwarze Community. In einer Literaturwelt, die hauptsächlich Bücher für Weiße produziert, sollte man sich das bewusst machen. Carty-Williams beschreibt, erklärt aber wenig. Sie setzt voraus, dass ihre Leser:innen den Alltag als Schwarzer Mensch kennen oder sich mit ihm beschäftigen. Also genau das, was in all den Büchern mit weißen Protagonisten ganz selbstverständlich auch getan wird. Queenie sagt beispielsweise, dass es Rassismus gegen Weiße nicht gibt, erklärt aber nicht, warum. Weil es in der Dialogsituation nicht nötig ist, es zu erklären.
Ein großer Teil des Romans behandelt die Zeit, in der Queenies Leben immer mehr zerbricht. Da Carty-Williams die Geschichte aus der Ego-Perspektive erzählt, ist man sehr nah bei ihren Entscheidungsprozessen dabei. Das wird zunehmend schwer erträglich, als wäre man Beifahrer bei einem sehr langsam ablaufenden Unfall und könne trotzdem nicht eingreifen. Gegen Ende der Katastrophenphase wurde mir das leider für einen recht kurzen Moment zu viel, was hauptsächlich daran liegt, dass Queenie genau weiß, dass sie gerade die nächste fatale Entscheidung trifft, sie aber trotzdem trifft. Glücklicherweise wird dieses selbstzerstörerische Verhalten aber wenig später aufgeklärt, so dass es rückblickend dann doch logisch wird.
Queenie gehört, wie schon erwähnt, zum erfreulicherweise endlich zunehmender Beachtung findenden Bereich der Bücher Schwarzer Schriftsteller:innen mit Schwarzen Protagonist:innen. Das bedeutet, als weiße:r Leser:in wird man immer wieder mit Inhalten konfrontiert, die man so nicht gewohnt ist und auf die man sich einlassen sollte. Ein wiederkehrendes Thema ist beispielsweise der Identitätskonflikt. Den kennen wir zwar auch von weißen Figuren, allerdings wirkt er sich bei Schwarzen anders und oft sehr viel umfassender aus. Das führt leicht zu Effekten, wie ich sie im vorangegangenen Absatz beschrieb: »Warum macht sie nicht das und das? Warum lässt sie sich nicht helfen?« In der Folge kann man dann schnell zu dem Urteil kommen, das wäre beispielsweise konstruiert. Hier ist Offenheit angesagt. Schwarze und weiße Lebensrealitäten sind leider nicht vergleichbar, daraus ergeben sich natürlich unterschiedliche Probleme und Handlungsmuster. Extrembeispiel: Wenn ich davon ausgehen muss, die Polizei könnte mir nicht unvoreingenommen begegnen, überlege ich mir dreimal, ob ich in einer Notsituation die 110 wähle. Das ist für die meisten unter uns weißen Menschen so abwegig, dass man es leicht als konstruiert hinstellen kann. Weil Schwarze Literatur über Schwarzes Leben schon so lange – wenn überhaupt – ein Nischendasein führt, sind wir andere Handlungsfolgen gewohnt. Wir sollten es als Bereicherung begrüßen, dass diese Literatur nun langsam mehr und mehr in größere Verlage rutscht, dass wir diese Lebensrealitäten kennenlernen können. Nur so können anfangen, das Leid zu verstehen und etwas zu ändern.
Handwerklich ist Queenie toll geschrieben. Sprachlich gibt es zwar recht explizite Stellen, das passt aber hervorragend zur Figur und durch die Ego-Perspektive ist die nun mal das sprachliche Maß. Neben Queenie bleiben so gut wie alle anderen Figuren ein bisschen oberflächlich, das kann ich aber verschmerzen, das Buch dreht sich ja zweifelsohne eben um Queenie. Was mir anfangs ein wenig Probleme gemacht hat, waren die Zeitsprünge, die nicht mit Kapitelüberschriften oder ähnlichem gekennzeichnet werden. Carty-Williams springt immer mal wieder in die Vergangenheit, um Queenies gegenwärtige Probleme zu erklären. Sobald ich aber in der Handlung drin war, war auch das kein Problem mehr.
Queenie ist keine leichte Kost, in so ziemlich jeder Hinsicht. Es behandelt kritische Themen wie Rassismus, Sexismus bis hin zu Übergriffen, toxische Beziehungen, Depressionen, familiäre Gewalterfahrungen und Schwangerschaftsabbruch bzw. Fehlgeburt und es kann, verstärkt durch die Erzählweise, definitiv triggern. Und obwohl ich als weißer Mann wohl eher nicht zur primären – und wahrscheinlich auch nicht zur sekundären – Zielgruppe gehöre, hat mir das Buch sehr gut gefallen (wundert mich nicht, passiert mir oft). Es weitet den Blick in einem Feld, das uns literarisch im Mainstream bisher weitgehend vorenthalten wurde. Und weil es dabei um unsere Mitmenschen geht, kann das eigentlich nur eine gute Sache sein.
Transparenzblock: Das Buch habe ich im über NetGalley als Rezensionsexemplar kostenfrei erhalten. Verpflichtungen (beispielsweise eine »wohlwollende« Rezension) sind damit, abgesehen von eben einer Rezension, nicht verbunden. Meine Meinung über das Buch, die ich hier kund tue, wird dadurch nicht beeinflusst.
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Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten (von Alice Hasters)
Autor: Alice Hasters
Erschienen: 2019
Seiten: 211

Gehören Sie auch zu den Menschen, die noch nie Fremden gegenüber ihren Stammbaum offenlegen mussten? Oder von ihnen ungefragt in die Haare gefasst bekamen? Oder oder oder. Finden auch Sie das extrem verstörend bis absurd, halten es deshalb gar für ein Märchen?
Dann geht es Ihnen wie einst mir und wir müssen dringend unseren Horizont erweitern. Denn all das ist Realität in diesem Lande. Nicht für uns weiße, aber für Schwarze Menschen.
Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten ist Alice Hasters‘ erstes Buch. Es erschien 2019 bei hanserblau, einem Imprint des Carl Hanser Verlags und umfasst 211 Textseiten, die sich in fünf Kapitel mit Unterkapiteln gliedern.
Ein paar vorbereitende Worte. Das hier wird keine für mich typische Rezension. Es wird wahrscheinlich mehr Raum auf mich, als auf Kritik am Buch fallen. Das hat primär zwei miteinander zusammenhängende Gründe: Erstens bin ich nicht der Meinung, dass es mir zusteht, das Werk inhaltlich zu kritisieren. Ich bin ein Weißbrot, mir fehlt der Erfahrungshorizont und es steht mir nicht zu, den Erfahrungshorizont von Betroffenen zu hinterfragen oder gar zu werten. Und zweitens halte ich es für eine sinnvolle Herangehensweise, das Buch insbesondere mit Selbsterkenntnissen, die ich ihm verdanke, vorzustellen. Denn es braucht leider ein gewisses Maß an Offenheit und Kritikfähigkeit, um sich dem Thema zu nähern. Der (weiße) öffentliche Diskurs – falls man das in vielen Fällen überhaupt Diskurs nennen kann – hilft nämlich kein bisschen dabei, sich auf die Reflexion der eigenen, ganz persönlichen Rolle gerade im systemischen Rassismus einzulassen. Soll heißen, das Buch schmerzt; aber da müssen wir dringend durch, meine blassen Mitmenschen.
Ich bin ein Kind der 80er und 90er, dörflich aufgewachsen und geprägt. In der Schule haben wir ausführlich Drittes Reich und Holocaust behandelt. Wir sind die Generation, die der Großelterngeneration die Kollektivschuld genommen haben soll und zur Individualschuld schwenkte. Dafür hat man uns nach Gusto gefeiert und verflucht. In den 90ern hatten wir Rostock-Lichtenhagen, Solingen und Mölln – große Schweigemärsche im Klassen- und Schulverband. Überhaupt, unsere Klassen im Gymnasium waren moderat durchmischt, die Herkunft spielte keine Rolle. Wir sind mit einem Bewusstsein aufgewachsen, als Deutsche eine besondere Verantwortung für die Zukunft zu tragen. Rassismus meinten wir zu erkennen, selber rassistisch konnten wir kaum sein, wir hatten ja aus der Vergangenheit gelernt.
Wenn man Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten aufschlägt, sollte man sich von diesem Selbstbild schon mal verabschieden. Anhand zahlreicher Alltagsbeispiele wird Alice Hasters es zerlegen. Ihr zentraler Punkt: Es besteht ein Unterschied zwischen Rassismus und rassistischem Verhalten und den sollten wir endlich begreifen und annehmen, weil sich sonst nie etwas verändern wird. Rassismus ist systemisch und absichtsvoll, rassistisches Verhalten zeigt jede*r, meist unbewusst und ungewollt, aber das ändert nichts an der Tatsache. Rassistisches Verhalten ist oftmals der sog. Alltagsrassismus. Es fällt uns (weißen) nicht auf, weil es internalisiert ist, weil wir gewisse historische Hintergründe schlicht nicht lernen. Wer hatte in der Schule Kontakt mit der deutschen Kolonialgeschichte, abgesehen davon dass sie sehr kurz war und alleine deshalb schon viel weniger relevant sein kann, als die der ›großen‹ Kolonialreiche (wir waren übrigens das drittgrößte)? Wer lernte in der Schule etwas darüber, dass wir Deutschen nicht nur den grausamsten (hier zu ranken fühlt sich wirklich falsch an) Völkermord des 20. Jahrhunderts verbrochen haben, sondern dazu auch noch einen zweiten, der der erste des noch jungen Jahrhunderts war (der an den Herero und Nama)? Oder unsere großen Philosophen, Kant, Hegel, Marx und wie sie alle hießen. Nicht einmal als ich an der Uni Soziologie lernte und wir bei Kant vorbei kamen, wurde sein güldener Schein der aufklärerischen Lichtgestalt angekratzt. Dabei läge nichts näher. Denn Kant verdanken wir nicht nur den Kategorischen Imperativ, auch die sog. Rassenlehre hat er maßgeblich mitgeprägt. Das lässt den Kategorischen Imperativ, wie wir ihn heute verstehen, doch ein wenig anders aussehen. Es macht ihn nicht schlechter, denn wir verstehen ihn heute ja als universal, aber man sollte sich klar machen, dass Kant ihn wohl vor allem zum Wohle der Weißen verstanden hat.
Und so gibt es eine gewaltige Zahl historischer Lücken in unserem Allgemeinwissen, die bis heute dazu führen, dass wir uns unbewusst rassistisch verhalten und unsere Mitmenschen verletzen. Alice Hasters führt uns durch ihre Lebensgeschichte anhand von Ereignissen, die sie geprägt haben, und deckt mit viel Geduld blinde Flecken auf. Sie gliedert das Buch in die Kapitel Alltag, Schule, Körper, Liebe und Familie. Innerhalb dieser Kapitel stellt sie in Unterkapiteln jeweils ein rassistisches Erlebnis aus ihrer Vergangenheit vor, erläutert dann Hintergründe und ordnet sie ein, und schließt die Situation ab. So erreicht sie, dass die Materie für ein Sachbuch nie wirklich trocken wird. In viele Situationen kann man sich mit wenig Anstrengung hineinversetzen, so gut gelingt ihr die Verknüpfung von Situation und Hintergründen. Eine Fülle von Oha-Momenten ist das Ergebnis, nicht selten drastischen. Ich bin beispielsweise beeindruckt, dass ich nie drauf kam, Clint Eastwoods gefeiertes Werk Gran Torino könnte ein ziemlich rassistisches sein. Der Film wird genau für das Gegenteil gefeiert. Dabei ist es, wenn man mal den Blickwinkel ändert, so offensichtlich. Der Rassist mit dem Herz am rechten Fleck, der im Hmong-dominierten Vorortviertel lebt. Alle leiden unter der Gang, die natürlich auch aus Hmong besteht. Der Rassist lernt die Kultur seiner Nachbarschaft eher unfreiwillig kennen, beginnt freundschaftliche Bindungen zu einigen und rettet am Ende, als sich die Hmong nicht mehr alleine vor der Gang retten können, unter Einsatz seines Lebens die neugewonnenen Freunde. Message: PoC machen Probleme und es braucht den heroischen Weißen, der sie rettet. Ein Plot, der sich durch die gesamte westliche Filmindustrie zieht – wahrscheinlich ist er deshalb so internalisiert, dass man den Rassismus übersieht. Und ein Plot, der sich durch die gesamte weiße Kolonialgeschichte und ihre Auswirkungen bis heute zieht. Zufälle gibt’s …
Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten ist, obwohl im Sachbuchsegment verortet, ein ausgesprochen persönliches Buch und darin liegt für mich auch der Hauptgrund, es so wärmstens als Einstieg in die Auseinandersetzung mit dem eigenen Rassismus zu empfehlen. Denn, wie schon gesagt, diese Auseinandersetzung tut weh und was weh tut aktiviert Abwehrreflexe. Durch die persönliche Ebene braucht es aber einerseits nicht allzu viel Empathie, um die Verletzungen, die man PoC ganz alltäglich direkt oder indirekt ungewollt zufügt, als eben das, was sie sind, zu erkennen. Und andererseits fällt es wirklich schwer, die Abwehrreflexe hoch zu fahren und Hasters böse dafür zu sein, dass sie sie uns vor die Nase hält. Es gibt andere Sachbücher, die in der Sache tiefer gehen, sich dafür aber auch distanzierter lesen lassen. Es gibt Belletristik, die das Thema behandelt, bei der man sich aber leicht auf eine sichere Position zurückziehen kann, weil die Geschichte ja fiktional ist. Gerade für den Einstieg ist es aber durchaus sinnvoll, sich so wenig Wege wie möglich zu erhalten, sich aus der Affäre zu ziehen und genau das macht Alice Hasters außerordentlich gut.
Also, lest dieses Buch! Am Besten mehrmals. Es macht zwar wenig Spaß, sich mit dem eigenen Rassismus zu beschäftigen, aber es muss getan werden und es ist die einzige Möglichkeit, Rassismus irgendwann mal dahin zu packen, wo er hingehört. Auf den Müllhaufen der Geschichte.
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Americanah (von Chimamanda Ngozi Adichie)
Autor: Chimamanda Ngozi Adichie
Erschienen: 2014
Seiten: 864

Ifemelu und Obinze wachsen im Nigeria der 1990er Jahre auf. In der Schulzeit werden sie ein Paar. Wie eine ganze von Perspektivlosigkeit getriebene Generation fassen sie in ihrer Studienzeit den Entschluss, Nigeria zu verlassen. Ihr Ziel: Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Ifemelu bekommt einen Studienplatz, Obinze nicht. Der Plan, dass er nachkommt, scheitert und so verlieren sie sich, ohne sich aber je loslassen zu können. 13 Jahre später kehrt Ifemelu nach Nigeria zurück. Vieles hat sich verändert, doch eine Konstante bleibt: Beide fühlen sich ohneeinander nicht vollständig.
Americanah entstammt der international preisgekrönten Feder der nigerianischen Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie. Der Roman erschien 2014 in der deutschen Übersetzung bei S. Fischer. Er umfasst in der Paperbackfassung von 2016 864 Seiten, die sich in sieben Teile mit insgesamt 55 Kapiteln gliedern.
Ich schicke gleich einen Hinweis vorweg: Americanah ist nur sehr sekundär klassische Unterhaltungsliteratur. Der Roman hat einen Auftrag. Er eröffnet einen tiefen Einblick in Schwarzes Leben – in Nigeria und als nicht-amerikanische Schwarze in Amerika, dazu ein bisschen England. Das ganze aus unterschiedlichen Perspektiven, einerseits das Auslandsstudium, andererseits Flucht aus Perspektivlosigkeit.
Warum ich meine, das vorweg schicken zu müssen? Man sollte, insbesondere als Weiße*r, mit der richtigen Erwartungshaltung an das Buch gehen. Denn es kann tatsächlich sehr viel geben. Adichie eröffnet insbesondere uns einen Einblick in eine Erlebniswelt, die wir nur nachzufühlen versuchen können. Und das müssen wir, wollen wir unseren internalisierten Rassismus jemals verstehen und überwinden. Langer Rede kurzer Sinn: Wer mit der Erwartung eines romantischen Unterhaltungsromans an Americanah geht, wird bald enttäuscht und sich in die Reihe der Rezensionen einreihen, die das Buch für zu dick, langatming bis langweilig, konstruiert, plakativ, mit einer verhältnismäßig dünnen Story ausgestattet etc. halten. Seid euch darüber im Klaren, was euch erwartet, öffnet euch für die Erfahrung, es lohnt sich.
Die Gegenwart der Handlung beginnt irgendwo zu Anfang der 2010er Jahre, kurz bevor Ifemelu die USA verlässt und zurück nach Nigeria geht. An diesem Zeitpunkt verharrt sie auch über den größten Teil des Buches. Während Ifemelu in einem Friseursalon für Schwarzes Haar sitzt, wird in langen Retrospektiven ihr Weg bis zu diesem Punkt ihres Lebens erzählt. Er beginnt in den 1990ern in Nigeria, mitten in der Zeit der Militärdiktaturen, in Ifemelus und Obinzes Schulzeit. Der wiederum ist in der Gegenwart im nun wieder demokratisierten Nigeria mit Immobilien reich geworden, nicht besonders glücklich verheiratet und Vater einer Tochter. Das Buch springt, bis die Retrospektiven in der Gegenwart ankommen, insgesamt recht selten und dann nur kurz in sie vor, so dass man leicht vergessen kann, dass es sich um Retrospektiven handelt.
Heraus sticht von Beginn an, dass Adachie einen starken Fokus darauf legt, ihren Lesenden die alltägliche Erlebniswelt Schwarzer Menschen in unterschiedlichen Facetten näher zu bringen. Dabei fällt schnell auf, dass die sehr viel komplizierter ist, als man sich das als Weiße*r allgemein vorstellt. Es geht beispielsweise um klassischen Anti-Schwarzen-Rassismus und Colorism (also unterschiedliche Rassismuserfahrungen Schwarzer in Abhängigkeit von der Dunkelheit der Haut) und Schwarze Identität oder um vermeintliche Banalitäten wie Haar- und Hautpflege. Ich hatte das Gefühl, dass Ifemelu häufig, auch wenn sie betroffen ist, eine Perspektive als Beobachterin einnimmt. Ab ihrer Ankunft in den USA bröckelt ihre Identität, sie kann sich nur schwer innerhalb der Gesellschaft verorten. Am deutlichsten wird das daran, dass sie erst in den USA feststellen muss, dass sie Schwarz ist; vorher gab es das Konstrukt in ihrem Leben schlicht nicht. Allerdings muss sie dabei auch feststellen, dass sie anders Schwarz ist als die US-amerikanischen Schwarzen. Später beginnt sie zu bloggen, quasi eine Einführung in US-amerikanischen Rassismus für nicht-amerikanische Schwarze. Die Blogbeiträge macht Adachie zum Teil des Buches und nutzt sie, um etwas expliziter in einzelne Aspekte der Thematik einzuführen. Vieles davon findet sich auch im Diskurs um Schwarzes Leben in Deutschland.
Sprachlich kann Americanah problematisch wirken. Beispielsweise ist die Übersetzung aus dem Englischen in Begrifflichkeiten sehr direkt. So wird das englische race als Rasse übersetzt, was hier durchaus nicht unumstritten ist, weil Rasse im Deutschen ganz anders beladen ist. Auch das N-Wort wird häufig genutzt, was aber nicht dazu einladen sollte, es zu reproduzieren.
Adichies Schreibstil ist sehr angenehm. Mir fiel es überhaupt nicht schwer, mich insbesondere in Ifemelu hinein zu fühlen und das, obwohl sie nicht selten völlig irrational bis selbstzerstörerisch zu handeln scheint. Adichie nimmt sich viel Zeit und Raum, alltägliche Rassismen zu erklären, auch was sie anrichten. Das verpackt sie häufig geschickt in die jeweilige Szene, so dass es nicht wie eine Fußnote oder ein Infoblock daher kommt. So finden sich solche Szenen beispielsweise häufig in Gesprächen mit Ifemelus jeweiligem Partner.
Americanah ist, wie schon anfangs ausgebreitet, ein politischer Roman. Wahrscheinlich ist Literatur von Schwarzen Schriftsteller*innen über Schwarzes Leben immer politisch, weil sie in einer weitgehend weiß-dominierten Literaturlandschaft zwangsläufig eine Erfahrungswelt behandelt, die in weißen Gesellschaften sehr konsequent ausgeblendet wird (Stichwort: Buntstifte in sog. Hautfarbe, Stichwort: Pflegeprodukte und Kosmetika für Schwarze Haut, Stichwort: Schwarzes Haar etcpp.). Wahrscheinlich ist es hilfreich, wenn man sich mit dieser Erlebniswelt vorher schon mal ein wenig beschäftigt hat. Wahrscheinlich ist es weniger hilfreich, dass ich immer noch an meinen Rezensionen über die in dieser Hinsicht hervorragenden Werke von Alice Hasters und Noah Sow kaue. Das Thema ist extrem breit gefächert und durch seine gesellschaftlich weitgehend ignorierte Allgegenwart hochkomplex. Und auch wenn Adichie sich bemüht, vieles zu erklären, das schafft ein Roman einfach nicht umfassend genug. Gerade die vermeintlichen Kleinigkeiten des Alltags erkennt man als Nicht-Betroffene*r deutlich besser, wenn man sich in den Diskurs bereits in eingänglicher Sachbuchform eingeführt hat. Trotzdem ist Americanah im Vergleich auch für thematische Einsteiger*innen sehr gut geeignet.
Zusammenfassend möchte ich also sagen, lest Americanah (und generell mehr Bücher von Schwarzen über Schwarzes Leben). Aber, insbesondere wenn ihr weiß seid, schaltet die anerzogenen Abwehrreflexe ab und nehmt euch Zeit. Auch um das Eine oder Andere weitergehend zu recherchieren. Ich kann’s nicht oft genug sagen, Americanah ist nur sehr sekundär ein Unterhaltungsroman.
Transparenzblock: Diese Rezension ist auch auf meinem Profil bei mojoreads (Werbung) erschienen. mojoreads versteht sich als social bookstore und beteiligt seine User am Erlös aus Buchverkäufen, die u.a. auf ihre Rezensionen zurückgehen. Wenn du das Buch kaufen willst, würdest du mir eine Freude machen, wenn du es über meine dortige Rezension (Werbung) kaufst. Bedankt 🙂
Kurzbio

Thomas liest, schreibt drüber, ist von der Menschheit im Allgemeinen genervt und schreibt auch mal da drüber.
Letzteres tut ihm jetzt schon Leid, ersteres nicht.
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