Kissing Chloe Brown (von Talia Hibbert)
Autor: Talia Hibbert
Erschienen: 2020
Seiten: 400

Romance also. Das ist normalerweise so überhaupt nicht mein Genre. Dass ich im Falle von Talia Hibberts Kissing Chloe Brown eine Ausnahme gemacht habe, liegt an ihrer Genre-Selbstbeschreibung: Sexy Diverse Romances. Divers macht für mich den Unterschied und dass Hibbert nicht nur eine Schwarze Autorin ist, sondern darüber hinaus mit Fibromyalgie bei Chloe über eine Krankheit schreibt, unter der sie selber leidet, kommt als Entscheidungshilfe noch obendrauf. Kissing Chloe Brown ist dabei der erste Teil einer Trilogie um die Brown-Schwestern Eve, Dani und eben Chloe. Jeder Band dreht sich um eine der drei Schwestern, der erste um Chloe.
Chloe Brown also. Chloe ist eine junge Schwarze Frau aus gutem Hause. Allerdings hat es das Leben bei Weitem nicht so gut mit ihr gemeint, wie das jetzt klingt. Sie hat Fibromyalgie, lebt also u.a. mit chronischen Schmerzen, und kommt in diesem Zusammenhang aus einer toxischen Beziehung. Ihr Leben hat sie umgekrempelt, lebt jetzt alleine in einer kleinen Wohnung. Als sie eines Tages fast überfahren wird, fasst sie einen Entschluss: Eine Liste der Dinge, die sie machen will, um der Mensch zu werden, der sie eigentlich sein will.
Da kommt unerwartet der Künstler und Hausmeister ihres Wohnblocks Red Morgan ins Spiel. Auch er macht gerade nicht die beste Phase seines Lebens durch, auch er kommt aus einer toxischen Beziehung. Mit seinem künstlerischen Schaffen klappt es nicht mehr und ganz allgemein geht es mit ihm eher bergab als bergauf. Chloe und er fallen sich zwar auf, die Begegnungen beschränken sich zunächst aber auf beißende Abweisung seitens ihr. Bis die beiden merken, dass sie gut füreinander sind.
Über Liebesgeschichten kann ich eigentlich nicht viel sagen. Für mich verlaufen sie immer ziemlich ähnlich und vorhersehbar und leben eigentlich hauptsächlich vom Mitfiebern, ob sich die Protagonist:innen denn am Ende kriegen, obwohl man genau weiß, dass es darauf hinaus laufen wird. Darum verlagere ich mich hier mal auf die Bereiche, wegen denen ich Kissing Chloe Brown überhaupt gelesen habe: Diversität. Hier bin ich recht begeistert von der Umsetzung. Chloe wird nicht, wie das öfter passiert, auf die Eigenschaften beschränkt, die sie zu einer marginalisierten Person machen. Insbesondere ihre Krankheit und die erheblichen Einschränkungen, die sie durch die erlebt, finden nicht herausgestellt, sondern beiläufig wie das Normalste der Welt statt. Wie sie für Chloe eben auch das Normalste der Welt sind. Nicht schön, aber eben auch nicht zu ändern. Trotzdem nimmt die Fibromyalgie durch ihre alltäglichen Folgen für Chloe natürlich eine zentrale Rolle ein – nur eben keine, die als besonders oder anders herausgestellt wird. Das gefällt mir gut, denn Krankheiten oder Behinderungen sollten nicht als unnormal behandelt werden.
An der Stelle sticht sicherlich auch Red heraus, der auf beeindruckende Weise besonders mit der Krankheit umgeht. Eben so, wie man es von Partnern erwarten können sollte.
Im Gegensatz zur Fibromyalgie findet Chloes Schwarzsein im Prinzip überhaupt nicht statt. Es wird erwähnt, aber das war es auch schon. Hier bin ich mir tatsächlich nicht ganz sicher, wie ich das finden soll. Einerseits wird es so eben auch implizit normalisiert, andererseits beschränkt sich das alltägliche Leben dann auf eine weiße Vorstellung – jedenfalls bei weißen Leser:innen. Weil Kissing Chloe Brown Romance ist und damit Gesellschafts- und Rassismuskritik nicht unbedingt Bestandteil sein müssen – Romance ist in der Hinsicht ja doch meist eher leicht verdauliche Unterhaltung – würde ich das verschmerzen. Weil Hibberts Selbsteinordnung aber explizit Diverse Romance ist, tue ich mich ein bisschen schwer damit, die Schwarze Perspektive nicht expliziter einfließen zu lassen. Nicht zwingend explizit mit rassismuskritischen Elementen, aber eben Elemente des Alltagslebens. Ich bin da zwiegespalten.
Was ich hinsichtlich der Schwarzen Perspektive aber positiv hervorheben möchte, ist das Verhältnis von Chloe und Red. Die sind nämlich beide auf ihre Weise kaputt. Die Erzählung ist nicht, dass der heroische weiße Red die kranke Schwarze Chloe retten muss, wie es leider ziemlich oft passiert – Stichwort white saviourism. Chloe und Red sind beide auf ihre Weisen in einer psychisch schwierigen Verfassung und durch ihre jeweilige Vergangenheit erheblich vorbelastet. Die Geschichte ist eine einer gegenseitigen Rettung und das recht gleichberechtigt, wenn auch nicht immer auf gleiche Weise. Das gefällt mir ziemlich gut.
Wenig zu meckern gibt es auch am Attribut Sexy. Kissing Chloe Brown weist nicht wenige explizite Passagen auf, die finde ich weitgehend gut umgesetzt. Ein bisschen problematisch erschien mir stellenweise Red, der sich ein ums andere Mal erheblich zusammenreißen muss, um in der Phase vor der Beziehung nicht über Chloe herzufallen. Im Kontext liest sich das schon fast wie kurz vor dem sexuellen Übergriff und entproblematisiert wird es im Prinzip nur, weil Chloe es wohl sehr begrüßen würde. Nur dass Red das eben nicht wissen kann, wodurch die Entproblematisierung eigentlich nicht funktionieren kann.
Content Warnungen kann ich mir bei dem Genre wohl eigentlich sparen. Dass es explizite Beschreibungen sexueller Handlungen gibt, gehört da einfach dazu. Ich könnte mich jetzt darüber auslassen, wie viele eher unschöne Bezeichnungen es im Deutschen für den unteren weiblichen Intimbereich gibt und dass bei expliziten Übersetzungen quasi immer zahlreiche davon Verwendung finden müssen – aber letztendlich ist das auch wieder Geschmackssache.
Am Ende bleibt Kissing Chloe Brown eine ganz schicke Liebesgeschichte mit einem gut umgesetzen, literarisch leider noch etwas spezielleren Charaktersetting. Insofern eine Empfehlung für Freund:innen des Genres und Leser:innen, die sich mal anschauen wollen, wie man Figuren abseits der Norm auch konstruieren und verwenden kann.
Transparenzblock: Das Buch habe ich im über NetGalley als Rezensionsexemplar kostenfrei erhalten. Verpflichtungen (beispielsweise eine »wohlwollende« Rezension) sind damit, abgesehen von eben einer Rezension, nicht verbunden. Meine Meinung über das Buch, die ich hier kund tue, wird dadurch nicht beeinflusst.
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Sophia, der Tod und ich (von Thees Uhlmann)
Autor: Thees Uhlmann
Erschienen: 2017
Seiten: 320

An der Tür des Erzählers klingelt es, davor steht der Tod. Die Zeit des Erzählers ist gekommen, doch etwas geht schief. An der Schwelle zum Jenseits tobt ein Kampf um die Stelle des Todes und der Erzähler steckt ungewollt plötzlich mittendrin. Gemeinsam mit seiner Ex-Freundin, mit der er nie ganz abgeschlossen hat, und dem Tod beginnt er einen Roadtrip zu seiner Mutter und seinem Sohn. Es steht viel auf dem Spiel, nicht weniger als das Jenseits der ganzen Menschheit.
Sophia, der Tod und ich ist das Romandebüt des Musikers Thees Uhlmann. Als Musiker gehört er fest zu meinem Unterhaltungsrepertoire, auf dem Wege bekam ich auch deutlich verspätet mit, dass er in Buchform schreibt. Sein zweites Buch über die Toten Hosen gab es irgendwann mal als Hörbuch bei Spotify, das hat mit stilistisch ziemlich begeistert (er ist auch ein ganz wunderbarer Vorleser für seine Texte). Da lag es nah, sich auch mal seinem Roman zu widmen. Was sich keinesfalls als Fehler erweisen sollte.
Der nicht näher benannte Erzähler – männlich, um die 40, ein Sohn, zu dem er aber nur einseitig über tägliche Postkarten Kontakt hat, Altenpfleger und ansonsten in seinem Leben relativ gescheitert, das aber wenigstens in beißendem Zynismus – wird also mit seinem unmittelbar bevorstehenden Tod konfrontiert, der einen Hauch weniger unmittelbar auf unbestimmte, aber absehbare Zeit verschoben werden muss. Von nun an fristet er sein Leben gemeinsam mit dem Tod – tot, sehr alt, stilvoll, unterhaltsam, Mutters Liebling und vom Karriereende bedroht -, denn ein kosmischer Jux besagt, dass stirbt, wer weiß, dass er der Tod ist und sich weiter als 400m von ihm entfernt … etwa. Aus dem gleichen Grund muss des Erzählers Ex-Freundin und große Liebe Sophia – ebenfalls um die 40, polnischer Abstammung, wunderschön und noch beißender zynisch – sich dem kuriosen Paar anschließen und später auch des Erzählers Mutter. Es bildet sich eine Gruppe sehr unterschiedlicher Charaktere, die aber eine meist urkomische Kombination ergeben.
Uhlmann gelingt dabei etwas recht schönes, denn Sophia, der Tod und ich hat an sich eine recht vorhersehbare Handlung, wird durch die Figuren und ihr Zusammenspiel in Wort und Tat aber zu einem ganz tollen Roman. Insbesondere die Dialoge sind teilweise herrlich absurd, egal wer gerade beteiligt ist. Dabei spielt er gefühlsmäßig auf einer breitgefächerten Klaviatur: von Trauer über Wut bis Lachen und Freude ist alles dabei und das so, dass es sich nie erzwungen anfühlt. Gute Teile sind so herrlich melancholisch, wie man Uhlmann auch musikalisch kennen kann. Das beherrscht er wirklich auf besondere Art.
Ein ganz kleines bisschen gewarnt sei trotzdem. Die Geschichte findet in einem kleinstädtisch sozialisierten Umfeld statt, das färbt naturgemäß etwas auf die Figuren ab. Es gibt zwar sehr wenig und nicht allzu harte diskriminierende Sprache, aber frei von ihr ist Sophia, der Tod und ich nicht. Meist fügt sich das in ein Zusammenspiel zwischen den Figuren ein (Sophia und ihr Vater frotzeln mit dem Erzähler über ihre polnische Herkunft, des Erzählers Mutter kokettiert regelmäßig mit ihrem Hintergrund als Hugenottin), allerdings wird insbesondere Autismus ein paar mal zweckentfremdet. Wie gesagt, es sind sehr wenige Einzelfälle, aber es gibt sie.
In diesem Sinne, mit Sophia, der Tod und ich bekommt ihr ein wunderschönes, melancholisches, witziges, trauriges, optimistisches und insgesamt sehr gelungenes Buch über das Leben, die Liebe, den Tod und überhaupt. Thees Uhlmann hat ein tolles Debüt geliefert.
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2024 – Singularity (von Matt Javis)
Autor: Matt Javis
Erschienen: 2019
Seiten: 301

Lou und seine Mitbewohner:innen bilden eine szenetypische Tüftler-WG in Pasadena. Künstliche Intelligenz ist insbesondere sein Thema, hier ist der junge Mann Experte. Nachdem Tarja einzieht, wird die WG plötzlich brutal überfallen. Die Neue scheint überraschend vorbereitet und flüchtet gemeinsam mit Lou. Schnell wird klar, dass Lous KI-Forschung ins Visier staatlicher und wirtschaftlicher Interessensgruppen gelangt ist und er sich mit mächtigen Gegnern befassen muss.
2024 – Singularity ist mir irgendwo zwischen LovelyBooks und mojoreads begegnet. Der Techroman markiert das Romandebüt des Physikers und Softwareentwicklers Martin Kreyscher unter dem Pseudonym Matt Javis. Das Buch erschien im Selbstverlag, was sicher nicht an seiner Qualität lag.
Spannend und etwas gewöhnungsbedürftig fand ich gleich im ersten Teil der Handlung die Zeitsprünge. Zu Beginn hatte ich das Buch nebenbei gelesen, so dass ich zwischendurch Gefahr lief, den zeitlichen Überblick zu verlieren. Das gibt sich aber recht schnell und die Kontinuität der Erzählung leidet kaum unter den zeitlichen ›Lücken‹ in der Handlung. Spätestens, bis die Handlung Fahrt aufnahm, war ich in der Geschichte drin.
Vernachlässigt hat Javis für mich ein wenig seine Figuren. Lou bekommt Tiefe, das lässt sich kaum vermeiden, schließlich begleitet der Großteil des Romans ihn. Bei Tarja wird es schon weniger, obwohl auch sie viel mit im Mittelpunkt steht. Alle anderen Figuren, inkl. Markov, bleiben leider etwas blass. Insgesamt hatte ich öfter das Gefühl, ein paar mehr Seiten hier und da hätten durchaus noch sein können. Ein häufiges Phänomen bei selbstverlegten Büchern, das nicht selten auf den Druckkosten fußt. Insofern möchte ich das nicht überbewerten, da muss man halt den Spagat zwischen Handlung und marktverträglichem Preis finden und das ist nicht unbedingt einfach.
Außerdem hat Javis den Platz für eine tolle Handlung genutzt. 2024 – Singularity glänzt als Techroman im KI-Segment. Nach einem relativ gemütlichen Start geht das Buch recht schnell in seine rasante Phase über, die kaum unterbrochen bis zum Ende anhält. Neben den genreüblichen, recht allgemeinethischen Fragen zum Komplex KI wirft Javis auch solche wie etwa die nach den ›Eigentümern‹ (was eigentlich das falsche Wort ist) einer starken KI auf. Ob also ein potenziell so mächtiges Instrument (was auch wieder das falsche Wort ist) in den Händen der Wirtschaft liegen darf. Eine der zahlreichen Fragen, mit denen sich Politik und Gesellschaft schon heute dringend beschäftigen sollten, denn die Implikationen von starken KIs, sollten sie denn entwickelt werden, sind dann so unmittelbar und weitreichend, dass es zu spät sein wird, sich erst dann dieser Fragen zu widmen.
Was ich ein wenig schade finde, das zieht sich aber durch das gesamte KI-Genre, ist der Verzicht auf eine allgemeinverständliche Erklärung der Deep-Learning-Verfahren. Jawis geht da schon etwas weiter als üblich, indem er sein wissenschaftliches Paper zum Lernkonzept von Lucy, der KI des Romans, im Anhang anfügt. Allerdings ist das eben – nun ja – ein wissenschaftliches Paper. Die praktischen Grundlagen des Lernprozesses bleiben letztendlich eine Blackbox, es bleibt bei der üblichen Erklärung, man »füttert« die KI mit bestehenden Daten und sie lernt daraus. Sicher, Deep Learning ist ein reichlich abstraktes Konzept ebenso wie neuronale Netzwerke, aber es bleibt der Allgemeinheit eben auch abstrakt, wenn sie in Populärliteratur nie allgemeinverständlich, was selbstverständlich auch Simplifikation einschließt, erklärt werden. Javis versucht das zu Beginn mit dem Roboter Marvin und er schafft es da auch weiter, als viele Autor:innen zuvor, aber es bleibt doch vieles abstrakt.
Doch nun genug genörgelt, denn das wird 2024 – Singularity nicht gerecht. Sieht man mal von diesen technischen Kritikpunkten ab, bleibt das Buch ein spannender Techroman. Und für Fachkundige gibt es sogar noch ein bisschen Wissenschaft dazu. Ein gelungenes Debüt, das Lust auf mehr macht.
Weit gegangen (von Dave Eggers)
Autor: Dave Eggers
Erschienen: 2008
Seiten: 768

Mit sieben Jahren wird das Dorf Valentino Achak Dengs im sudanesischen Bürgerkrieg vernichtet und eine lange Fluchtgeschichte beginnt. Vom Sudan gelangt er über Äthiopien und Kenia schließlich in die USA. Auf dem Weg dorthin erlebt er schon als Kind mehr Grauen und Tod, als ein Mensch in seinem ganzen Leben erleben sollte. Dies ist seine Geschichte.
Weit gegangen wird als Roman, der allerdings auf dem Tatsachenbericht Achaks aufgebaut wurde, angekündigt. Eggers erzählt die Fluchtgeschichte Achaks aus dessen Perspektive und spart dabei nicht mit Details. So wird das Buch ziemlich dick – und das machte mir den Einstieg auch nicht gerade leicht. Ich habe etwa 100 Seiten gebraucht, bis ich endlich angekommen war. Bis man sich auf das Buch eingelassen hat, kann es recht langatmig wirken. Wenn es dann aber soweit ist, fesselt es umso mehr.
Achaks Geschichte ist in großen Teilen die zahlreicher sudanesischer Kinder. Sie beginnt im damals noch nicht unabhängigen Südsudan der 90er Jahre. Der Bürgerkrieg spitzt sich zu, sowohl die Regierungstruppen als auch die konkurrierenden Rebellengruppen der SPLA terrorisieren systematisch Dörfer. Als es Marial Bai, das Heimatdorf Achaks trifft, flieht er und schließt sich einer Gruppe anderer Jungen an, die den langen Weg nach Äthiopien aufgenommen haben. Immer getrieben von der Hoffnung auf ein besseres Leben müssen die Jungen jedoch bald feststellen, dass niemand mit diesem besseren Leben auf sie wartet. Nicht in den Geflüchtetenlagern Äthiopiens und nicht in denen Kenias.
Die Rahmenhandlung für Weit gegangen liefert die Gegenwart der frühen 2000er in den USA, wo Achak in seiner Wohnung überfallen wird. Diese spielt eine untergeordnete Rolle, die überwiegende Handlung findet in der Vergangenheit statt. Eggers nutzt Personen in der Rahmenhandlung als imaginäre Gesprächspartner für Achak, denen er seine Geschichte in seiner Vorstellung erzählt. Sie wechseln mit der Rahmenhandlung. Zunächst richtet er sich an die Einbrecher, dann an einen Pfleger im Krankenhaus. später an Fitnessstudiobesucher. Die Gespräche sind immer imaginär, Achak erzählt den Personen nur in seinem Kopf seine Geschichte.
Weit gegangen reiht sich ein in die Bücher Eggers‘, mit denen er den Umgang insbesondere des Westens mit Krisenregionen kritisiert. Seine Kritik ist dabei umfassend, sie richtet sich an Staaten wie an NGOs. Und leider ist sie heute so aktuell wie 2008, als das Buch hierzulande erschien. Achak schildert eindrucksvoll ein Leben als Geflüchtete:r, die ständige Gefahr, die Entbehrungen, Hunger, Krankheit und was all das mit den Menschen macht. Gerade mit Blick auf die Grenz- und Asylpolitik der EU ist das Buch wieder hochpolitisch. Es gibt Gründe für das, was in Lagern wie Moria passiert – und die liegen nicht bei den Geflüchteten. Weit gegangen kann dort einen Einblick geben, der vielen Menschen im Westen in seiner Totalität wohl nicht klar ist. Wie tiefgreifend anders das Leben auf der Flucht ist, welche Selbstverständlichkeiten des Lebens dabei wegfallen, wie elementar die Verzweiflung auch in den Lagern ist. Und schließlich auch wie schwer das Ankommen in einem neuen Leben sein kann.
Im Zuge der Veröffentlichung von Weit gegangen wurde 2006 die Valentino Achak Deng Foundation gegründet, der von Beginn an sämtliche Erlöse aus dem Buch zukommen. Die Stiftung setzt sich insbesondere für den Zugang zu Bildung für Kinder im Südsudan ein, aber auch für wirtschaftliche Unabhängigkeit in verarmten Communities.
Ins Deutsche übersetzt wurde Weit gegangen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann, zu meckern hatte ich da nichts. Eine Contentwarnung darf wieder nicht fehlen: Das Buch ist in vielerlei Hinsicht explizit. Seien es Folterungen, Bürgerkriegshandlungen, Gewalt im Allgemeinen oder aber auch Rassismuserfahrungen und extreme Armut. Es kann belasten und das sollte es wohl auch.
Trotzdem bleibt für Weit gegangen am Ende nur eine Empfehlung. Das Buch ist heute so wichtig wie zu seinem Erscheinen. Es bietet einen tiefen Einblick in das Leben Geflüchteter und in die damit verbundenen Geschehnisse im Süd-/Sudan, in Äthiopien und Kenia – eine Thematik, deren Hintergründe hier gerne ausgeblendet werden, um Geflüchtete nur unter wirtschaftlichen Aspekten betrachten zu können.
Transparenzblock: Diese Rezension ist auch auf meinem Profil bei mojoreads (Werbung) erschienen. mojoreads versteht sich als social bookstore und beteiligt seine User am Erlös aus Buchverkäufen, die u.a. auf ihre Rezensionen zurückgehen. Wenn du das Buch kaufen willst, würdest du mir eine Freude machen, wenn du es über meine dortige Rezension (Werbung) kaufst. Bedankt 🙂
Queenie (von Candice Carty-Williams)
Autor: Candice Carty-Williams
Erschienen: 2020
Seiten: 544

Queenies Leben ist eine halbe Katastrophe. In ihrer Zeitungsredaktion arbeitet sie eher halbherzig und ihre Beziehung mit Tom hängt an einem dünnen Faden, ohne dass es ihr auffällt. Als der schließlich reißt, stürzt sie ab. Es folgt ein wahlloses Sexdate nach dem anderen, allen gemein, dass Queenie ausgenutzt wird. Am tiefsten Punkt wird sie in der Redaktion suspendiert, muss wieder bei ihren Großeltern einziehen – und reißt das Ruder rum.
Queenie ist der Debütroman der britischen Schriftstellerin Candice Carty-Williams. Das Buch erschien in der deutschen Übersetzung am 18.08.2020 im Aufbau Verlag. Es umfasst 544 Seiten, die sich in 30 Kapitel gliedern. Für mein Rezensionsexemplar darf ich mich beim Verlag und NetGalley bedanken.
»Schwarze Bridget Jones«, so wollte die Sunday Times Queenie feiern. Carty-Williams hat dem widersprochen, Queenie sei zu politisch, weil sie ist, wer sie ist, und könnte so nie eine Bridget Jones sein. Und das trifft es. Queenie ist die Geschichte eines Katastrophenjahres einer jungen Schwarzen Frau in London. Queenie ist ein politisches Statement und zwar insbesondere eines für die Schwarze Community. In einer Literaturwelt, die hauptsächlich Bücher für Weiße produziert, sollte man sich das bewusst machen. Carty-Williams beschreibt, erklärt aber wenig. Sie setzt voraus, dass ihre Leser:innen den Alltag als Schwarzer Mensch kennen oder sich mit ihm beschäftigen. Also genau das, was in all den Büchern mit weißen Protagonisten ganz selbstverständlich auch getan wird. Queenie sagt beispielsweise, dass es Rassismus gegen Weiße nicht gibt, erklärt aber nicht, warum. Weil es in der Dialogsituation nicht nötig ist, es zu erklären.
Ein großer Teil des Romans behandelt die Zeit, in der Queenies Leben immer mehr zerbricht. Da Carty-Williams die Geschichte aus der Ego-Perspektive erzählt, ist man sehr nah bei ihren Entscheidungsprozessen dabei. Das wird zunehmend schwer erträglich, als wäre man Beifahrer bei einem sehr langsam ablaufenden Unfall und könne trotzdem nicht eingreifen. Gegen Ende der Katastrophenphase wurde mir das leider für einen recht kurzen Moment zu viel, was hauptsächlich daran liegt, dass Queenie genau weiß, dass sie gerade die nächste fatale Entscheidung trifft, sie aber trotzdem trifft. Glücklicherweise wird dieses selbstzerstörerische Verhalten aber wenig später aufgeklärt, so dass es rückblickend dann doch logisch wird.
Queenie gehört, wie schon erwähnt, zum erfreulicherweise endlich zunehmender Beachtung findenden Bereich der Bücher Schwarzer Schriftsteller:innen mit Schwarzen Protagonist:innen. Das bedeutet, als weiße:r Leser:in wird man immer wieder mit Inhalten konfrontiert, die man so nicht gewohnt ist und auf die man sich einlassen sollte. Ein wiederkehrendes Thema ist beispielsweise der Identitätskonflikt. Den kennen wir zwar auch von weißen Figuren, allerdings wirkt er sich bei Schwarzen anders und oft sehr viel umfassender aus. Das führt leicht zu Effekten, wie ich sie im vorangegangenen Absatz beschrieb: »Warum macht sie nicht das und das? Warum lässt sie sich nicht helfen?« In der Folge kann man dann schnell zu dem Urteil kommen, das wäre beispielsweise konstruiert. Hier ist Offenheit angesagt. Schwarze und weiße Lebensrealitäten sind leider nicht vergleichbar, daraus ergeben sich natürlich unterschiedliche Probleme und Handlungsmuster. Extrembeispiel: Wenn ich davon ausgehen muss, die Polizei könnte mir nicht unvoreingenommen begegnen, überlege ich mir dreimal, ob ich in einer Notsituation die 110 wähle. Das ist für die meisten unter uns weißen Menschen so abwegig, dass man es leicht als konstruiert hinstellen kann. Weil Schwarze Literatur über Schwarzes Leben schon so lange – wenn überhaupt – ein Nischendasein führt, sind wir andere Handlungsfolgen gewohnt. Wir sollten es als Bereicherung begrüßen, dass diese Literatur nun langsam mehr und mehr in größere Verlage rutscht, dass wir diese Lebensrealitäten kennenlernen können. Nur so können anfangen, das Leid zu verstehen und etwas zu ändern.
Handwerklich ist Queenie toll geschrieben. Sprachlich gibt es zwar recht explizite Stellen, das passt aber hervorragend zur Figur und durch die Ego-Perspektive ist die nun mal das sprachliche Maß. Neben Queenie bleiben so gut wie alle anderen Figuren ein bisschen oberflächlich, das kann ich aber verschmerzen, das Buch dreht sich ja zweifelsohne eben um Queenie. Was mir anfangs ein wenig Probleme gemacht hat, waren die Zeitsprünge, die nicht mit Kapitelüberschriften oder ähnlichem gekennzeichnet werden. Carty-Williams springt immer mal wieder in die Vergangenheit, um Queenies gegenwärtige Probleme zu erklären. Sobald ich aber in der Handlung drin war, war auch das kein Problem mehr.
Queenie ist keine leichte Kost, in so ziemlich jeder Hinsicht. Es behandelt kritische Themen wie Rassismus, Sexismus bis hin zu Übergriffen, toxische Beziehungen, Depressionen, familiäre Gewalterfahrungen und Schwangerschaftsabbruch bzw. Fehlgeburt und es kann, verstärkt durch die Erzählweise, definitiv triggern. Und obwohl ich als weißer Mann wohl eher nicht zur primären – und wahrscheinlich auch nicht zur sekundären – Zielgruppe gehöre, hat mir das Buch sehr gut gefallen (wundert mich nicht, passiert mir oft). Es weitet den Blick in einem Feld, das uns literarisch im Mainstream bisher weitgehend vorenthalten wurde. Und weil es dabei um unsere Mitmenschen geht, kann das eigentlich nur eine gute Sache sein.
Transparenzblock: Das Buch habe ich im über NetGalley als Rezensionsexemplar kostenfrei erhalten. Verpflichtungen (beispielsweise eine »wohlwollende« Rezension) sind damit, abgesehen von eben einer Rezension, nicht verbunden. Meine Meinung über das Buch, die ich hier kund tue, wird dadurch nicht beeinflusst.
Transparenzblock: Diese Rezension ist auch auf meinem Profil bei mojoreads (Werbung) erschienen. mojoreads versteht sich als social bookstore und beteiligt seine User am Erlös aus Buchverkäufen, die u.a. auf ihre Rezensionen zurückgehen. Wenn du das Buch kaufen willst, würdest du mir eine Freude machen, wenn du es über meine dortige Rezension (Werbung) kaufst. Bedankt 🙂
Kurzbio

Thomas liest, schreibt drüber, ist von der Menschheit im Allgemeinen genervt und schreibt auch mal da drüber.
Letzteres tut ihm jetzt schon Leid, ersteres nicht.
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