Rezension: GRM: Brainfuck (von Sibylle Berg)
Autor: Sibylle Berg
Erschienen: 2019
Seiten: 640

Rochdale, Großbritannien, in einer sehr nahen, sehr düsteren Zukunft. Alle düsteren Visionen, die sich im neuen Jahrtausend angedeutet haben, sind so gut wie oder schon Realität. Hohe Arbeitslosigkeit, die Mittelschicht ist in die Armut gerutscht, die Oberschicht versucht auch noch das Letzte an Macht und Geld aus der geknechteten Gesellschaft zu pressen. Totalüberwachung ist real. Überbordende Straßenkriminalität ist real. Die Gentrifizierung macht auch vor den letzten Grundstücken nicht halt.
In dieser Welt finden vier Kinder einigermaßen unterschiedlicher Hintergründe auf der Straße einander. Sie sind entwurzelt, schweben zwischen Desillusion und Revolution, und die Pubertät. Oje. Sie schließen sich zusammen, verlassen Rochdale bald und versuchen, sich in London durch den Sumpf zu schlagen.
GRM: Brainfuck erschien 2019 bei Kiepenheuer & Witsch. Auf 640 Seiten erzählt Sibylle Berg fortlaufend die Geschichten der Kinder und ausgewählter, stereotyper ›Mitglieder‹ der Gesellschaft, die auf die eine oder andere Weise kurz oder lang Einfluss auf ihr Leben haben. Ich würde das Buch irgendwo zwischen Coming-of-Age- und Gesellschaftsroman einstufen, mit satirischen und dystopischen Elementen.
Um das gleich vorweg zu nehmen: GRM: Brainfuck ist monumental. Wöllte man versuchen, alle Themen, die Sibylle Berg aufgreift, genussvoll durch den Wolf dreht und dann neu formt, aufzulisten, man würde wohl kein Ende finden. Alles an diesem Buch ist gewaltig, selbst so simple Dinge, wie die Gliederung – die durch den fortlaufenden Text kaum existiert und mit zu dem Eindruck beiträgt, einen stetig wachsenden Berg Gewolftes zu erklimmen.
Aber zurück zu den Themen, die allesamt nah an ihr pessimistischstes Extremum geführt werden. Als da wären Brexit und damit zusammenhängend Nationalismus und Faschismus, Globalisierung, Gentrifizierung, Misogynie, Armut und Kinderarmut im Speziellen, Klassismus und sozialer Abstieg, Kriminalität, Massenbeeinflussung durch einfach alles, Massenüberwachung durch einfach alles, Social Credit Systeme, Alkohol-, Medikamenten- und Drogenkonsum, Prostitution und Kinderprostitution, Kinderhandel, Kinderpornografie und allgemein Pornografie in allen denkbaren Ausprägungen, Wählermanipulation, künstliche Intelligenz, Digitalisierung und Technisierung von einfach allem, soziale Medien, Kryptowährungen, Neoliberalismus, Kapitalismus, Industrie 4.0, Privatisierung, Todesstrafe, Schwangerschaftsabbruch, Gentechnik, Klimawandel, Umweltzerstörung, Fleischindustrie … ich könnte noch ewig so weiter machen, es wird kein Ende nehmen. Erwähnte ich schon, dass das Buch gewaltig ist?
Ein Kunststück, davon nicht erschlagen zu werden, das Sibylle Berg aber gelingt. Vor allem die vier Kinder Don, Hannah, Karen und Peter sorgen für eine rote Linie durch die Geschichte. Dazu kommt eine sehr angenehme Mischung aus brutaler Dystopie und Satire, so dass man sich oft zwischen Abscheu und Schmunzeln bewegt. Die Side-Storys sind gekonnt mit der roten Linie verknüpft, nichts scheint so wirklich überflüssig, alles erweitert die Sicht. Bergs Sprache – oftmals bis zum Unangenehmen brutal – und der ihr ganz eigene Umgang mit gängiger Interpunktion harmonieren ganz wunderbar mit dem Inhalt und runden ihn auf einer weiteren Ebene ab.
Zwischen diesem ganzen Wust erzählt Sibylle Berg eine ein bisschen traurige, aber an sich schöne Coming-of-Age-Geschichte, mit eben den ganzen Problemen, die das so mit sich bringt, wenn man zusätzlich zu diesen Problemen noch sehr früh und sehr schnell auf sehr negative Weise sehr erwachsen werden muss. Dabei sind die Kinder, erstaunlich genug, noch die am Wenigsten durch die gesellschaftlichen und familiären Umstände zerstörten Figuren.
GRM: Brainfuck ist eine sehr düstere, nicht besonders ferne Zukunftsvision. Eine mögliche Antwort auf die Frage, was passiert, wenn wir die Gesellschaft durch Desinteresse und Selbstsucht vollkommen an die Wand fahren. Es ist auch ein Buch, das anstrengend sein kann und anstrengend sein muss. Was nicht davon abhalten soll, es zu lesen. Wirklich. Denn es ist in vielerlei Hinsicht auch sehr ehrlich.
[yasr_overall_rating null size=“medium“]
Transparenzblock: Diese Rezension ist auch auf meinem Profil bei mojoreads (Werbung) erschienen. mojoreads versteht sich als social bookstore und beteiligt seine User am Erlös aus Buchverkäufen, die u.a. auf ihre Rezensionen zurückgehen. Wenn du das Buch kaufen willst, würdest du mir eine Freude machen, wenn du es über meine dortige Rezension (Werbung) kaufst. Bedankt 🙂
Vorabrezension: Mein Leben als Sonntagskind (von Judith Visser)
Autor: Judith Visser
Erschienen: 2019
Seiten: 607

Jasmijn ist ein ganz normales Kind – doch das nur in ihrer Fantasie. Die echte Jasmijn weiß, dass sie anders als ihre Mitmenschen ist, aber nicht, wie sie mit ihnen umgehen soll. Warum sagen sie immer etwas anderes, als sie eigentlich sagen wollen? Warum erwarten sie immer Antworten auf Fragen, die sie gar nicht gestellt haben? Und überhaupt, warum muss es überall immer so laut und bunt sein, dass Jasmijn Migräne bekommt?
Mein Leben als Sonntagskind von Judith Visser erscheint am 2. Mai bei HarperCollins. Der autobiographische Coming-of-Age-Roman gliedert sich auf 607 Seiten mit Einleitung und Epilog in 136 überwiegend sehr kurze Kapitel. Erzählt wird in einer Art Tagebuchform aus der Ego-Perspektive. Das Hardcover habe ich als Rezensionsexemplar über Vorablesen bekommen, dafür möchte ich mich auch bei HarperCollins herzlich bedanken.
Judith Visser ist spätdiagnostizierte Aspergerin, so ist es auch ihre Romanfigur Jasmijn Vink. Mein Leben als Sonntagskind ist Vissers zwölftes Werk und das erste, das international verlegt wird. Der Roman begleitet Jasmijn vom ersten Tag der Vorschule bis ins Erwachsenenalter. Da es ein autobiographischer Roman ist, werde ich mir Kritik an der Story nicht anmaßen. Ich wüsste davon abgesehen auch nicht, wo ich sie üben sollte. Ich habe mich sehr bewusst auf die Rezensionsrunde beworben, habe mir ein tieferes Verständnis für die Wahrnehmung mit Autismus (jedenfalls eine Wahrnehmung) erhofft. Judith Visser hat meine Erwartungen da um Längen übertroffen. Insofern bin ich mir sicher, dass ich mit meiner Rezension weder ihr noch ihrem Werk gerecht werden werde. Aber ich will es versuchen.
Auf das Buch muss man sich einlassen, das fällt bei Vissers Erzählstil aber auch nicht schwer. Eindrücklich und mit viel Liebe zum Detail beschreibt sie durch das ganze Buch hindurch, wie Jasmijn als Autistin die Welt und die Lebewesen fühlt und wahrnimmt. Ist das in Gesprächssituationen noch recht einfach, weil Jasmijns Verständnis da einfach nur darauf beruht, den Gegenüber buchstäblich beim Wort zu nehmen, ist es in Wahrnehmungssituationen schon deutlich schwieriger. Wenn sie beispielsweise erzählt, dass ein Bild einer Situation über ihre Netzhaut schabt, dann musste ich mich anfangs daran erinnern, dass das durchaus auch wörtlich gemeint ist. Das gibt sich aber recht schnell, denn Visser lässt ihre Leserschaft so tief und eindrucksvoll in Jasmijns Kopf und Körper eintauchen, als nähme man die Welt tatsächlich als sie wahr. Mir fällt kein anderes Buch, das ich bis jetzt gelesen habe, ein, in dem das so gut gelang.
Wenn ich rezensiere, fasse ich mir meine Eindrücke nach jedem Kapitel mehr oder weniger kurz zusammen. Das führt dazu, dass ich immer wieder unterbrochen werde und normalerweise nicht so tief in die Geschichte eintauche. Ich erwähne das, weil es mir bei Mein Leben als Sonntagskind nicht passiert ist. Das Buch hat mich so sehr eingenommen, dass die Unterbrechungen, und mit Blick auf die kurzen Kapitel waren das wirklich viele, überhaupt keinen negativen Einfluss genommen haben.
Welchen Sinn hatte es dann, sich zu einem Grüppchen zu stellen und mitzumachen? Was brachte es, interessiert zu tun? Wenn man Interesse heuchelte, hielt man die anderen zum Narren. Dann ließ man das eigene Gehirn einen Marathon laufen, und wozu? Davon hatte niemand etwas. Also hielt man besser den Mund und blieb in seiner eigenen Welt. Ich gönne jedem seine Gleichgesinnten, solange er nicht erwartete, dass ich dazugehörte.
Das war alles andere als wählerisch.
Das hieß, dass man sich selbst treu blieb.
Das mag auch daran liegen, dass ich mich an vielen Stellen ein bisschen selber erkannt habe und auch das war ein Grund, aus dem ich das Buch lesen wollte. Das Zitat, das bin ich, in einer Präzision, die ich selber wohl nie erreicht hätte. So ging es mir an vielen Stellen. Gerade wenn es um Kommunikation und soziale Verhaltensregeln geht, hat Jasmijn einen ähnlich pragmatischen Blick auf die Welt wie ich. Ich bin nicht neurodivergent und die Wirkung ist eine viel weniger belastende, vor allem keine körperliche, aber ich bin da offenbar nicht ganz alleine. Das gibt mir mit dem Buch ein noch schöneres Gefühl.
So ist es auch kein Wunder, dass mich das Buch emotional mitgerissen hat. Ich habe an zahlreichen Stellen Rotz und Wasser mit Jasmijn geweint – wörtlich. Für ein bestimmtes Kapitel – wer das Buch liest, wird es mit Sicherheit leicht identifizieren – habe ich fast 45 Minuten gebraucht, weil ich spätestens nach jedem zweiten Satz nichts mehr sehen konnte. An anderen Stellen flossen die Tränen beim Mitfreuen. Ich kenne das zwar, dass manche Bücher größere emotionale Reaktionen in mir hervorrufen, aber die Intensität, mit der ich Jasmijn erlebt habe, war außergewöhnlich. Judith Visser gibt ihr eine Tiefe, die mir so noch nicht begegnet ist.
Als ich das Buch fertig gelesen hatte, war mein Hirn voll – im positiven Sinne. Ich konnte einen halben Tag nicht lesen, fernsehen, einfach nichts mehr aufnehmen. Mein Hirn hat sich angefühlt, als hätte es jetzt alles aufgenommen, was es aufnehmen muss. Das ist zwar nicht so und es ist auch sehr gut, dass es nicht so ist, aber für den Moment war das ein wirklich befriedigendes Gefühl, das ich so auch noch nicht erlebt habe.
Mein Leben als Sonntagskind möchte ich wirklich jedem ans Herz legen. Es vermittelt auf eindrucksvolle Weise, wie Menschen, die im Volksmund »halt anders« sind, die Welt wahrnehmen. Es ist zwar nicht zu verallgemeinern, dafür sind selbst Autisten zu unterschiedlich, aber es gibt einen Eindruck davon, was möglich ist. Alleine das kann das Verständnis schon erheblich erweitern. Und das würde uns allen helfen.
[yasr_overall_rating null size=“medium“]
Transparenzblock: Das Buch habe ich im Rahmen einer Buchverlosung über Vorablesen als Vorabrezensionsexemplar kostenfrei erhalten. Verpflichtungen (beispielsweise eine »wohlwollende« Rezension), abgesehen von eben einer Rezension, habe ich dabei keine. Meine Meinung über das Buch, die ich hier kund tue, wird dadurch nicht beeinflusst.
Transparenzblock: Diese Rezension ist auch auf meinem Profil bei mojoreads (Werbung) erschienen. mojoreads versteht sich als social bookstore und beteiligt seine User am Erlös aus Buchverkäufen, die u.a. auf ihre Rezensionen zurückgehen. Wenn du das Buch kaufen willst, würdest du mir eine Freude machen, wenn du es über meine dortige Rezension (Werbung) kaufst. Bedankt 🙂
Kurzbio

Thomas liest, schreibt drüber, ist von der Menschheit im Allgemeinen genervt und schreibt auch mal da drüber.
Letzteres tut ihm jetzt schon Leid, ersteres nicht.
Archiv
- Dezember 2020 (5)
- November 2020 (1)
- Oktober 2020 (5)
- September 2020 (3)
- August 2020 (7)
- Juli 2020 (3)
- Mai 2020 (1)
- April 2020 (3)
- März 2020 (8)
- Februar 2020 (15)
- Januar 2020 (9)
- Dezember 2019 (2)
- November 2019 (19)
- Oktober 2019 (21)
- September 2019 (23)
- August 2019 (6)
- Juli 2019 (6)
- Juni 2019 (5)
- Mai 2019 (15)
- April 2019 (15)
- März 2019 (9)
- Februar 2019 (5)
- Januar 2019 (2)
- Februar 2018 (1)