Miss Bensons Reise (von Rachel Joyce)
Autor: Rachel Joyce
Erschienen: 2020
Seiten: 480

London nach dem Zweiten Weltkrieg. Es herrscht die Rationierung, der Krieg wirkt noch nach. Margery Benson, nur geringfügig jünger als das Jahrhundert, arbeitet als Hauswirtschaftslehrerin an einer Schule, ihre Schüler machen sie fertig. Als ihre Klasse sie mit einer bösartigen Karikatur über ihr Aussehen demütigt, ist Schluss. Margery verlässt die Schule, nicht ohne dabei ein paar Stiefel mitgehen zu lassen. Sie erinnert sich ihrer Liebe zur Naturkunde, die sie seit ihrer Kindheit hegte. Ursprünglich wollte sie Forscherin werden, wollte Expeditionen leiten, neue Arten entdecken. Der Goldene Käfer von Neukaledonien, den sie einst mit ihrem Vater in einem Kuriositätenbuch sah, rückt wieder in ihr Blickfeld. Sie beschließt, wenn sie die Expedition jetzt nicht durchführt, wird sie sie nie mehr durchführen. Margery beginnt mit der Planung, macht sich auf die Suche nach eine:r Assistent:in.
Da tritt Enid Pretty, 26, auf den Plan. Enid ist das exakte Gegenteil von Margery. Quirlig, modebewusst, mit Regeln und Gesetzen eher auf Kriegsfuß. Ihr Lebenstraum, Mutter zu werden, hat durch Fehlgeburten zahlreiche Rückschläge erlitten. Enid ist nicht Margerys erste Wahl, am Ende aber ihre einzige. Und obwohl Enid auch bei den nötigen Qualifikationen nicht ganz ehrlich war, entwickeln sich die beiden Frauen zu einem energischen Team.
Pünktlich zum Jahresende 2020 erschien Rachel Joyces Roman Miss Bensons Reise im deutschsprachigen Raum bei Krüger, einem Imprint von S. Fischer. Das Buch umfasst 480 Seiten, die sich in recht kurze Kapitel gliedern. Der Entwicklungsroman kommt in Form einer Art Coming-of-Middleage-Geschichte daher.
Miss Bensons Reise, das überrascht jetzt kaum, ist eine Reisegeschichte. Der allergrößte Teil des Romans spielt sich im Kontext von Margerys und Enids Expedition nach Neukaledonien ab. Eingebettet ist das in eine Zeit, zu der Frauen nicht viel mehr als gebärfreudiges und im Optimalfall gutaussehendes Beiwerk hart arbeitender Männer zu sein hatten. Beiden Frauen passt diese Rolle kaum auf den Leib. Margery hatte immer viel zuviel zu tun und überhaupt nicht gerade den Wunsch nach einem solchen Leben. Enid sieht ihre Berufung zwar in der Mutterschaft, hat aber nicht das glücklichste Händchen mit Männern. Überhaupt sind beide hinsichtlich Männern gebrannte Kinder. Und für beide ist die Expedition der große Ausbruch aus ihren ganz unterschiedlichen Leben.
Diese Reise lässt uns Rachel Joyce ganz wunderbar miterleben. Mal trocken humorvoll, mal herrlich absurd – Margery und Enid sind einfach zwei tolle Figuren. Für das vorletzte Kapitel mag ich Joyce nicht besonders, für das letzte dafür umso mehr. Denn neben der Reiseerzählung entwickelt sich die Geschichte mit der Zeit zu einer sehr feministischen, die im letzten Kapitel in einem Plädoyer für weibliches Selbstbewusstsein gipfelt. Joyce schlägt dabei sehr gelungen einen Bogen von den genderpolitischen Verhältnissen in der Wissenschaft der 50er- zu den 80er-Jahren – und damit in so mancher Disziplin wahrscheinlich bis ins Heute.
Neben der Handlung um Margery und Enid existiert ein zweiter Strang um den Kriegsversehrten Mr. Mundic. Dessen Rolle hat sich mir leider nicht ganz erschlossen, wahrscheinlich weil sie extrem ambivalent daher kommt. Mundic hat im Krieg Schlimmes erlebt und getan, war danach in Kriegsgefangenschaft und ist dadurch erheblich psychisch beeinträchtigt. Zunächst obdachlos, gehört er zu denen, die auf Margerys Suche nach einer Assistenz reagieren, dann steigert er sich in die Rolle hinein, obwohl er sie gar nicht bekam. So weit kann ich dem Setting folgen. Allerdings schlägt diese Rolle zunehmend dramatisch um. Was als Scheinwerfer auf die Probleme einer Generation von Kriegsversehrten gedacht sein könnte, untermalt am Ende eher die damaligen Vorbehalte diesen gegenüber. Mundic bringt ein Spannungsmoment in die Geschichte, die ohne ihn relativ wenig mit Spannung arbeitet, das war es in meinen Augen aber letztendlich auch. Essenziell wichtig scheint mir dieser Strang nicht, zumal er auch die einzige männliche Figur ist, die überhaupt eine nennenswerte Rolle spielt.
Letzteres zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch: Es geht um Frauen. Margery und Enid sind dabei die Abweichung von der Norm. Die Norm wiederum wird insbesondere durch die Diplomaten- und Industriellenfrauen in Neukaledonien immer wieder eingestreut. Und selbst in deren Kontext stellt Joyce diese immer wieder in Frage – am deutlichsten durch die Rolle von Dolly Wiggs. Dass Frauen mit der ihr auferlegten Rolle damals nicht glücklich waren, dass sie in einer Welt der zerbrochenen Lebensträume lebten, das wird mehr als deutlich und sogar scheinbar so sehr in ihrer zugedachten Rolle aufgehende Frauen wie Mrs. Pope haben eine andere Seite.
Miss Bensons Reise spielt in einer in vielerlei Hinsicht schwierigen Zeit, da bleibt es nicht aus, dass ich ein paar Worte zur Sprache sagen muss. Neukaledonien gehört historisch zum sog. französischen Kolonialbesitz, zur Zeit der Geschichte ist es französisches Überseegebiet. Das spiegelt sich in den vorgefundenen Verhältnissen wie auch in der Sprache. Allerdings, und das gefällt mir sehr, bemüht sich Joyce gerade hinsichtlich der Sprache, kolonialrassistische Anteile zu vermeiden. Das gelingt ihr recht gut, jedenfalls deutlich besser, als man es in einer Geschichte über weiße Protagonist:innen in einem Kolonialterritorium erwarten würde. Schwieriger ist das in Kontexten, aber auch da bemüht sie sich um eine Art Ausgewogenheit. So malt der Roman beispielsweise kein Szenario des white saviourism, allerdings mit dem Makel, dass die Geschichte fast ausschließlich innerhalb der Blase der weißen Gesellschaft der Insel spielt. Die indigene Gesellschaft findet fast ausschließlich im Kontext von Margerys und Enids Basislager in Poum statt und da auch eher als Requisite, als als ernsthafter Bestandteil der Handlung.
Alles in allem ist Miss Bensons Reise aber insbesondere unter feministischen Gesichtspunkten ein gelungener Roman. Auf denen liegt klar Joyces Fokus und den setzt sie auch ziemlich packend um. Das Buch dreht sich hauptsächlich um die Freundschaft zweier sehr unterschiedlicher Frauen in einer Zeit, in der Frauen nicht gerade den Mittelpunkt der Welt bilden durften, und lebt von ihr sehr viel mehr als von Spannung. Das macht es aber auch zu einer recht schönen Geschichte.
Transparenzblock: Das Buch habe ich im über NetGalley als Rezensionsexemplar kostenfrei erhalten. Verpflichtungen (beispielsweise eine »wohlwollende« Rezension) sind damit, abgesehen von eben einer Rezension, nicht verbunden. Meine Meinung über das Buch, die ich hier kund tue, wird dadurch nicht beeinflusst.
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Cows – Folge nicht der Herde (von Dawn O’Porter)
Autor: Dawn O’Porter
Erschienen: 2019
Seiten: 464

Tara, 42, Dokumentarfilmerin und alleinerziehende Mutter, hat ihr Leben abseits traditioneller Rollenbilder soweit im Griff. Nur ein Partner wäre noch nett. Als sie den Richtigen kennen lernt, wacht sie plötzlich als Spottfigur der Nation auf. Doch dann tritt die taffe Lifestylebloggerin Cam, die einen ganz anderen Lebensstil verkörpert, in ihr Leben.
Währenddessen wünscht sich Stella, der ihr Leben seit dem Krebstod ihrer Mutter und ihrer Zwillingsschwester rasant entgleitet, nichts sehnlicher als ein Kind und geht dabei verzweifelte Wege.
Cows erschien 2019 bei FISCHER. Dawn O’Porters Gesellschaftsroman umfasst 464 Seiten und wird als Taschenbuch mit Klappenbroschur geliefert.
Dawn O’Porter erzählt in Cows die Geschichten dreier ganz unterschiedlicher, teilweise scheinbar krass gegensätzlicher Frauen, die allesamt nicht das klassische Rollenbild verkörpern. Tara ist alleinerziehende Mutter und voll im Berufsleben. Ihre Tochter Annie hat sie durch einen One-Night-Stand bekommen, dem Vater hat sie nie von ihr erzählt, um ihn nicht unter Zugzwang zu setzen. Im Job ist sie von Sexisten umgeben, die Mütter von Annies Mitschülern vermitteln ihr, dass sie nichts Gutes von ihrer Doppelrolle halten. Auch wenn Tara Mutterschaft und Arbeit aufopferungsvoll meistert, erntet sie Ablehnung von allen Seiten. Als ihr Leben dann aus den Fugen gerät, halten im Prinzip nur noch ihre Mutter und Annie zu ihr.
Cam ist 36 und feministische Lifestylebloggerin der ersten Stunde. Sie lebt ihr Leben, wie es sie glücklich macht, was bedeutet, kein Kinderwunsch, keine Liebesbeziehung und, abgesehen von ihrem Onlineleben, relativ alleine. Ihre Mutter versteht sie nicht, denn sie ist die einzige von vier Schwestern, die keine Familie gründen will. Mit ihrem Blog versucht sie, Frauen zu bestärken, aus klassischen Rollenbildern auszubrechen und sich zu nehmen, was sie wollen.
Stella, die Jüngste in der Runde, ist 23 und Persönliche Assistentin. Sie trägt das Brustkrebsgen, genau wie ihre Mutter und ihre Zwillingsschwester, die beide an Krebs verstorben sind. Seit dem Tod ihrer Schwester ist ihr Leben völlig aus der Bahn. Sie lebt in einer Beziehung, die sich im Auflösungsstadium befindet, kann ihre Schwester nicht los lassen und ist sozial relativ isoliert. Und sie ist fest davon überzeugt, dass ein Kind den Sinn ihres Lebens retten würde, allerdings kommt für sie nur eine natürliche Schwangerschaft in Frage. Durch das Brustkrebsgen rinnt ihr dafür die Zeit durch die Finger.
Die Handlungsstränge der drei Frauen erzählt Dawn O’Porter im Fall von Tara und Stella aus der Ego-Perspektive, in Cams als allwissende Erzählerin. In allen drei Fällen füllt sie die Figuren aber mit viel Tiefe. Taras und Cams Hinter- und Beweggründe kommen für mich absolut nachvollziehbar rüber, für Stella ist das in meinen Augen im Vergleich nicht ganz so gut gelungen. Ihre Geschichte entwickelt eine Eigendynamik, die sie meines Erachtens nicht hätte entwickeln müssen. Aber das ist ok, möglicherweise biegt sie einfach nur ein paar Mal falsch ab.
»Folge nicht der Herde« ist zweifellos die rote Linie des Buches. Neben den feministischen Positionen, die Dawn O’Porter am explizitesten durch Cam und ihr Blog propagiert und mit denen sie sich ›gegen die Herde‹ stellt, tritt sie auch deutlich im Durchspielen des sozialen und medialen Shitstorms gegen Tara zutage. Den spielt sie tatsächlich sehr realistisch durch, bis hin zu Taras Interview, von dem sie berufsbedingt eigentlich genau weiß, dass es das Schlimmste ist, worauf sie sich einlassen kann. Doch die Verzweiflung schlägt ihre Expertise und der Boulevard nimmt das freudig auf. Cows demonstriert auf eindrückliche Weise, wie tiefgreifend Gesellschaft und Medien einen Menschen aus Sensationsgier und Heuchelei zerstören kann. Das tut über weite Strecken auch beim Lesen sehr weh.
Cows demonstriert aber auch, wie sich Menschen (in dem Fall Frauen), so unterschiedlich und gegensätzlich sie auch sind, gemeinsam aus dem Abgrund ziehen können. Dass es lohnt, für sich und andere einzustehen. Dass Individuen eben Individuen sind und ihren eigenen Weg gehen dürfen. Und dass die Individualität akzeptiert werden muss, jedenfalls solange sie anderen nicht schadet. Lustigerweise bin ich, während ich die Rezension vorbereitet habe, auf einige negative Rezensionen gestoßen, die sich im Prinzip alle offen darauf stützen, dass die Verfasser*innen sich nicht mit den Hauptfiguren identifizieren konnten, weil sie ihr Verhalten abstoßend fanden. Besonders im Hinblick auf Cam wurde da quasi genau das vorgeworfen, dem sie sich auch im Buch entgegen stellt. Das hat für mich schon eine gewisse Ironie und zeigt, wie nötig Geschichten dieser Art immer noch sind.
Cows ist ein tolles, ein starkes Buch. Es kann sensibilisieren und es kann Mut machen. Und das weit über die offenbare Zielgruppe – dem habe ich ja schon einen eigenen Blogpost gewidmet – hinaus. Schade, dass es genderadvertised wird. Manch einem Mann könnte es durchaus auch den Horizont erweitern.
Transparenzblock: Diese Rezension ist auch auf meinem Profil bei mojoreads (Werbung) erschienen. mojoreads versteht sich als social bookstore und beteiligt seine User am Erlös aus Buchverkäufen, die u.a. auf ihre Rezensionen zurückgehen. Wenn du das Buch kaufen willst, würdest du mir eine Freude machen, wenn du es über meine dortige Rezension (Werbung) kaufst. Bedankt 🙂
Kurzbio

Thomas liest, schreibt drüber, ist von der Menschheit im Allgemeinen genervt und schreibt auch mal da drüber.
Letzteres tut ihm jetzt schon Leid, ersteres nicht.
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