Americanah (von Chimamanda Ngozi Adichie)
Autor: Chimamanda Ngozi Adichie
Erschienen: 2014
Seiten: 864

Ifemelu und Obinze wachsen im Nigeria der 1990er Jahre auf. In der Schulzeit werden sie ein Paar. Wie eine ganze von Perspektivlosigkeit getriebene Generation fassen sie in ihrer Studienzeit den Entschluss, Nigeria zu verlassen. Ihr Ziel: Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Ifemelu bekommt einen Studienplatz, Obinze nicht. Der Plan, dass er nachkommt, scheitert und so verlieren sie sich, ohne sich aber je loslassen zu können. 13 Jahre später kehrt Ifemelu nach Nigeria zurück. Vieles hat sich verändert, doch eine Konstante bleibt: Beide fühlen sich ohneeinander nicht vollständig.
Americanah entstammt der international preisgekrönten Feder der nigerianischen Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie. Der Roman erschien 2014 in der deutschen Übersetzung bei S. Fischer. Er umfasst in der Paperbackfassung von 2016 864 Seiten, die sich in sieben Teile mit insgesamt 55 Kapiteln gliedern.
Ich schicke gleich einen Hinweis vorweg: Americanah ist nur sehr sekundär klassische Unterhaltungsliteratur. Der Roman hat einen Auftrag. Er eröffnet einen tiefen Einblick in Schwarzes Leben – in Nigeria und als nicht-amerikanische Schwarze in Amerika, dazu ein bisschen England. Das ganze aus unterschiedlichen Perspektiven, einerseits das Auslandsstudium, andererseits Flucht aus Perspektivlosigkeit.
Warum ich meine, das vorweg schicken zu müssen? Man sollte, insbesondere als Weiße*r, mit der richtigen Erwartungshaltung an das Buch gehen. Denn es kann tatsächlich sehr viel geben. Adichie eröffnet insbesondere uns einen Einblick in eine Erlebniswelt, die wir nur nachzufühlen versuchen können. Und das müssen wir, wollen wir unseren internalisierten Rassismus jemals verstehen und überwinden. Langer Rede kurzer Sinn: Wer mit der Erwartung eines romantischen Unterhaltungsromans an Americanah geht, wird bald enttäuscht und sich in die Reihe der Rezensionen einreihen, die das Buch für zu dick, langatming bis langweilig, konstruiert, plakativ, mit einer verhältnismäßig dünnen Story ausgestattet etc. halten. Seid euch darüber im Klaren, was euch erwartet, öffnet euch für die Erfahrung, es lohnt sich.
Die Gegenwart der Handlung beginnt irgendwo zu Anfang der 2010er Jahre, kurz bevor Ifemelu die USA verlässt und zurück nach Nigeria geht. An diesem Zeitpunkt verharrt sie auch über den größten Teil des Buches. Während Ifemelu in einem Friseursalon für Schwarzes Haar sitzt, wird in langen Retrospektiven ihr Weg bis zu diesem Punkt ihres Lebens erzählt. Er beginnt in den 1990ern in Nigeria, mitten in der Zeit der Militärdiktaturen, in Ifemelus und Obinzes Schulzeit. Der wiederum ist in der Gegenwart im nun wieder demokratisierten Nigeria mit Immobilien reich geworden, nicht besonders glücklich verheiratet und Vater einer Tochter. Das Buch springt, bis die Retrospektiven in der Gegenwart ankommen, insgesamt recht selten und dann nur kurz in sie vor, so dass man leicht vergessen kann, dass es sich um Retrospektiven handelt.
Heraus sticht von Beginn an, dass Adachie einen starken Fokus darauf legt, ihren Lesenden die alltägliche Erlebniswelt Schwarzer Menschen in unterschiedlichen Facetten näher zu bringen. Dabei fällt schnell auf, dass die sehr viel komplizierter ist, als man sich das als Weiße*r allgemein vorstellt. Es geht beispielsweise um klassischen Anti-Schwarzen-Rassismus und Colorism (also unterschiedliche Rassismuserfahrungen Schwarzer in Abhängigkeit von der Dunkelheit der Haut) und Schwarze Identität oder um vermeintliche Banalitäten wie Haar- und Hautpflege. Ich hatte das Gefühl, dass Ifemelu häufig, auch wenn sie betroffen ist, eine Perspektive als Beobachterin einnimmt. Ab ihrer Ankunft in den USA bröckelt ihre Identität, sie kann sich nur schwer innerhalb der Gesellschaft verorten. Am deutlichsten wird das daran, dass sie erst in den USA feststellen muss, dass sie Schwarz ist; vorher gab es das Konstrukt in ihrem Leben schlicht nicht. Allerdings muss sie dabei auch feststellen, dass sie anders Schwarz ist als die US-amerikanischen Schwarzen. Später beginnt sie zu bloggen, quasi eine Einführung in US-amerikanischen Rassismus für nicht-amerikanische Schwarze. Die Blogbeiträge macht Adachie zum Teil des Buches und nutzt sie, um etwas expliziter in einzelne Aspekte der Thematik einzuführen. Vieles davon findet sich auch im Diskurs um Schwarzes Leben in Deutschland.
Sprachlich kann Americanah problematisch wirken. Beispielsweise ist die Übersetzung aus dem Englischen in Begrifflichkeiten sehr direkt. So wird das englische race als Rasse übersetzt, was hier durchaus nicht unumstritten ist, weil Rasse im Deutschen ganz anders beladen ist. Auch das N-Wort wird häufig genutzt, was aber nicht dazu einladen sollte, es zu reproduzieren.
Adichies Schreibstil ist sehr angenehm. Mir fiel es überhaupt nicht schwer, mich insbesondere in Ifemelu hinein zu fühlen und das, obwohl sie nicht selten völlig irrational bis selbstzerstörerisch zu handeln scheint. Adichie nimmt sich viel Zeit und Raum, alltägliche Rassismen zu erklären, auch was sie anrichten. Das verpackt sie häufig geschickt in die jeweilige Szene, so dass es nicht wie eine Fußnote oder ein Infoblock daher kommt. So finden sich solche Szenen beispielsweise häufig in Gesprächen mit Ifemelus jeweiligem Partner.
Americanah ist, wie schon anfangs ausgebreitet, ein politischer Roman. Wahrscheinlich ist Literatur von Schwarzen Schriftsteller*innen über Schwarzes Leben immer politisch, weil sie in einer weitgehend weiß-dominierten Literaturlandschaft zwangsläufig eine Erfahrungswelt behandelt, die in weißen Gesellschaften sehr konsequent ausgeblendet wird (Stichwort: Buntstifte in sog. Hautfarbe, Stichwort: Pflegeprodukte und Kosmetika für Schwarze Haut, Stichwort: Schwarzes Haar etcpp.). Wahrscheinlich ist es hilfreich, wenn man sich mit dieser Erlebniswelt vorher schon mal ein wenig beschäftigt hat. Wahrscheinlich ist es weniger hilfreich, dass ich immer noch an meinen Rezensionen über die in dieser Hinsicht hervorragenden Werke von Alice Hasters und Noah Sow kaue. Das Thema ist extrem breit gefächert und durch seine gesellschaftlich weitgehend ignorierte Allgegenwart hochkomplex. Und auch wenn Adichie sich bemüht, vieles zu erklären, das schafft ein Roman einfach nicht umfassend genug. Gerade die vermeintlichen Kleinigkeiten des Alltags erkennt man als Nicht-Betroffene*r deutlich besser, wenn man sich in den Diskurs bereits in eingänglicher Sachbuchform eingeführt hat. Trotzdem ist Americanah im Vergleich auch für thematische Einsteiger*innen sehr gut geeignet.
Zusammenfassend möchte ich also sagen, lest Americanah (und generell mehr Bücher von Schwarzen über Schwarzes Leben). Aber, insbesondere wenn ihr weiß seid, schaltet die anerzogenen Abwehrreflexe ab und nehmt euch Zeit. Auch um das Eine oder Andere weitergehend zu recherchieren. Ich kann’s nicht oft genug sagen, Americanah ist nur sehr sekundär ein Unterhaltungsroman.
Transparenzblock: Diese Rezension ist auch auf meinem Profil bei mojoreads (Werbung) erschienen. mojoreads versteht sich als social bookstore und beteiligt seine User am Erlös aus Buchverkäufen, die u.a. auf ihre Rezensionen zurückgehen. Wenn du das Buch kaufen willst, würdest du mir eine Freude machen, wenn du es über meine dortige Rezension (Werbung) kaufst. Bedankt 🙂
Altes Land (von Dörte Hansen)
Autor: Dörte Hansen
Erschienen: 2017
Seiten: 303

Ende des Zweiten Weltkriegs wird die gutbürgerliche Hildegard von Kahmen wie so viele aus ihrer Heimat in im damaligen Ostpreußen vertrieben. Gemeinsam mit ihrer fünfjährigen Tochter Vera flüchtet sie in den Westen und landet schließlich in einem Dorf in der Elbmarsch, dem Alten Land. Die Freude über die Neuankömmlinge ist sehr begrenzt, sie kommen schließlich in einem Zimmer auf dem Hof von Ida Eckhoff unter. Das Landleben ist hart und hinterlässt seine Spuren.
Jahrzehnte später steht Hildegards Enkelin Anne vor den Trümmern ihres Lebens. Der Freund und Vater ihres Kindes Leon liebt eine andere, das hippe Leben in Hamburg-Ottensen macht sie fertig, ihre Arbeit ist eine einzige Enttäuschung. Sie flüchtet – ausgerechnet an die Tür des Hofes im Alten Land, vor dem auch ihre Großmutter und Tante einst standen.
Altes Land, der Debütroman von Dörte Hansen, erschien 2017 bei Knaus, einem Imprint von Random House. Der Roman umfasst 303 Seiten, die sich in 26 Kapitel gliedern.
Ein altes Bauernhaus im Alten Land ist das Zentrum des Romans. Viel hat es erlebt, jetzt – in der Gegenwart – ist es abgelebt. Vera wurde es nie richtig zur Heimat, trotzdem gehört es unzweifelhaft zu ihr. Genauso ist es mit dem Dorf, in dem sie, das »Polackenkind« aufwuchs. Zwischen Kirsch- und Apfelbäumen, Pferden und kauzigen Bauern. Ihre ganze Welt und doch ist sie nie richtig mit ihr verschmolzen.
Ähnlich geht es Anne in ihrer ganz anderen Welt. Profimusikerin sollte sie werden, so hatte es ihre Mutter Marlene, Veras Schwester, für sie vorgesehen. Doch dann kam ihr Bruder und war talentierter, Anne war abgeschrieben. Sie machte eine Tischlerlehre, bekam ihren Sohn von Christoph, einem Schriftsteller, und ging als musikalische Früherzieherin für die Kinder der Powereltern nach Hamburg-Ottensen. Auch sie kam dort nie an, wurde nie glücklich. Als all das zusammenbricht, findet sie in Vera und ihrem abgewirtschafteten Hof schließlich eine neue Perspektive.
Altes Land ist ein Zusammenschnitt von Lebenslinien unterschiedlichster Art. Zentral sind die von Vera und Anne, doch es sind bei Weitem nicht die einzigen. Da ist Hildegard, mit der alles begann. Da ist Marlene, Veras Stiefschwester, die in völlig anderen Verhältnissen aufwuchs. Oder Hinni Lührs, Veras Nachbar, der zwar drei Kinder in die Welt setzte, am Ende aber doch ohne einen Erben für seinen Hof dasteht. Oder Burkhard Weißwerth, die Karikatur eines Journalisten, der aus seinem hippen Großstadtleben aufs Land zieht, um sich selbst zu verwirklichen und über »das echte Leben« zu schreiben. Oder Dirk vom Felde und seine Frau Britta, die dem klassisch-romantisierten Bauerntum den Rücken gekehrt und sich der industrialisierten Landwirtschaft zugewandt haben. Oder Tischlermeister Carsten Drewe, bei dem Anne einst lernte und der mit dem Wandel seines Berufszweigs zu Plastikfenstern und Pressspahnmöbeln nichts anfangen kann. Das Problem lässt sich erahnen, das sind ganz schön viele Zeitlinien für 303 Seiten.
Und tatsächlich, viele Figuren scheinen nur angekratzt, ein paar wenige sogar überflüssig. Burkhards Handlungsstrang beispielsweise fand ich wenig relevant. Über das Verhältnis von Vera und Hinni hätte ich dagegen gerne mehr erfahren. Trotzdem, der Roman ist unterhaltsam und er lebt, genau wie später Mittagsstunde, vor allem von der Art, wie Dörte Hansen erzählt. Denn im Spiel mit einfachen Bildern und Gefühlen ist sie eine wirklich Gute. Trotz der vielen Stellen, an denen die Geschichten unvollständig wirken, fällt es absolut nicht schwer, sich in die Figuren und ihre Lebenswelt zu versetzen. Und trotz all der Bilder und Gefühle wird Altes Land nicht melancholisch oder anklagend, Hansen schafft auf ihre nordisch-trockene Art da einen spannenden Spagat.
Wo wir bei der Sprache sind, muss ich aber auch wieder ein Wort der Kritik loslassen. Es geht, man kann es sich schon denken, um diskriminierende Sprache. Die gibt es mehrfach und an den meisten Stellen hat sie ihre Berechtigung für die Geschichte. Das »Polackenkind« ist da wohl der klarste Fall. Das kritisiere ich nicht, das braucht der Roman und es ist auch so eingesetzt, dass es nicht nach Billigung klingt. Allerdings taucht, wie später in Mittagsstunde, wieder das B-Wort auf – wieder in einem Kontext, in dem es nicht nötig wäre. In Mittagsstunde war es der »Küchenb***o«, in Altes Land ist es der »Bauern-B***o«, jeweils als Selbstbezeichnung. Aus irgendeinem Grund scheint Hansen an diesem Unwort einen Narren gefressen zu haben, anders kann ich mir nicht erklären, dass es in beiden Büchern unbedingt je einmal auftauchen muss. Ich erwähne das so ausführlich, weil es mich aufregt, dass bei mir von einem im Prinzip guten Buch vor Allem dieses Wort hängenbleibt. Das muss doch wirklich nicht sein.
Ansonsten hat Altes Land eindeutig zu wenig Seiten. Hansen schafft es zwar, vielen Figuren auch auf diesen verhältnismäßig wenigen Seiten erstaunlich viel Tiefe zu verleihen, andere kommen aber zu kurz. Da wäre mehr möglich gewesen und vieles wäre vielleicht auch nachvollziehbarer geworden. Der Roman wirkt dadurch ein bisschen unvollendet, zumal man Anfang und Ende der Handlung um Vera und Anne bereits aus dem Klappentext kennt (wo es aber nicht unbedingt so klingt, als wäre das schon das Ende).
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Die Parade (von Dave Eggers)
Autor: Dave Eggers
Erschienen: 2020
Seiten: 192

Vier und Neun kommen als Straßenbauer für einen großen Konzern in ein vom Bürgerkrieg zerstörtes Land. Sie sollen einen modernen Highway zwischen dem armen Süden und dem reichen Norden bauen. Während Vier das Geschäft kennt und so stoisch und regelkonform wie möglich die Arbeit verrichten will, gerät er zunehmend in Konflikt mit Neun, einem Lebemann, der gegen alle Konzernregeln möglichst viele Erfahrungen mit der fremden Kultur mitnehmen möchte. Als einer der beiden plötzlich schwer erkrankt, beginnt ihr Leben dramatische Wendungen zu nehmen und über allem schwebt die Frage, ob sie den Menschen wirklich helfen.
Die Parade ist Dave Eggers‘ neuester Roman. Er erschien 2020 bei Kiepenheuer & Witsch und umfasst 192 Seiten, die sich in 23 Kapitel gliedern. Die Parade ist als Parabel angelegt. Für mein Rezensionsexemplar bedanke ich mich bei KiWi und NetGalley.
Die Parade war für mich so eine typische Zufallswiederentdeckung. Meine ersten Erfahrungen mit Dave Eggers hatte ich vor Jahren mit Der Circle gemacht, ich war rundum begeistert, hatte mir vorgenommen, insbesondere noch an seine ausgezeichneten Bücher zu gehen, das ging dann irgendwie vergessen (ihr kennt das). Dann wurde mir Die Parade zufällig auf NetGalley empfohlen und ich dachte mir, Eggers, da war doch was, bei KiWi, dann kann schon nichts schief gehen, fragste mal an. Und siehe da, alles richtig gemacht.
Was an Die Parade schnell auffällt, fast die komplette Handlung ist im Klappentext schon vorweg genommen und sie klingt, so als Spannungskurve, gar nicht so spektakulär. Tatsächlich ist die Handlung in einiger Hinsicht ziemlich minimalistisch angelegt: Fast das ganze Buch findet auf bzw. an der Straße, die die beiden Protagonisten bauen, statt. Die wenigen Figuren, die überhaupt eine nennenswerte Rolle spielen, brauchen nicht einmal richtige Namen. Die Handlung an sich ist kein Spektakel, wirklich nicht. Trotzdem, und das hat mich wirklich überrascht, kann man das Buch nicht auf die Seite legen. Eggers erzeugt eine ganz subtile Spannung, die sich aber eben nicht auf Spektakel, sondern auf der Geschichte selbst begründet. Schwer zu erklären, ich verstehe das selbst nicht so genau, aber es ist faszinierend.
Obwohl auch Eggers‘ Charaktersetting minimalistisch daher kommt, könnten seine Protagonisten nicht unterschiedlicher sein. Eggers‘ Erzähler begleitet Vier, einen Straßenbauveteranen. Vier kennt nur seinen Auftrag und die Konzernregeln, die jeglichen Kontakt zur einheimischen Bevölkerung streng verbieten. Der Auftrag hat quasi eine Deadline, denn eine große Parade ist zur Einweihung der Straße geplant – die zudem als großes Zeichen im Friedensprozess verstanden wird. Vier ist fest entschlossen, die Deadline einzuhalten. Doch obwohl hochgradig stoisch, zwingen ihn die Umstände dazu, eine Entwicklung durch zu machen.
Ihm gegenüber steht Neun, der praktisch in jeder Hinsicht das genaue Gegenteil von Vier ist. Die Straße ist Neuns erster Auftrag für die Firma und er ist begierig darauf, möglichst viel von Kultur und Menschen mitzunehmen. Die Regeln sieht er eher als nett gemeinte Information, Ernst nimmt er sie nicht. Dabei missachtet er nicht nur die scheinbar vollkommen überzogenen Regeln, sondern auch die, die tatsächlich erkennbar Sinn machen.
Mit Vier und Neun treffen zwei Charaktere aufeinander, die nur in einem großen Knall kollidieren können. Doch die Umstände zwingen sie, neue Seiten an sich zu entdecken.
Das alles findet in einem Aufbauhilfeszenario statt, das immer wieder über die großen Fragen nachzudenken anregt. Wie hilfreich sind die vermeintlich gut gemeinten Eingriffe des Westens in sog. Entwicklungsländern? Wie viel Selbstlosigkeit steckt dahinter und wer profitiert eigentlich wirklich? Und wie geht man damit um, wenn gut gemeinte Hilfe plötzlich den Weg in die Katastrophe bahnt? Dave Eggers beantwortet diese Fragen nicht wirklich, aber er regt eindrücklich dazu an, genauer hinzusehen. Aufbau- und Entwicklungshilfe hat ihre Schattenseiten mit teils drastischen Konsequenzen. Die werden oft überspielt.
Die Parade hat mich in einiger Hinsicht beeindruckt. Insbesondere durch die ganz spezielle Art der Spannung, die Eggers aus einem scheinbar wenig ergiebigen und im Klappentext schon fast auserzählten Plot generiert. Aber auch durch die Art, wie er ganz subtil zum Nachdenken anregt. Ein wohl immer aktuelles Buch und literarisch ein echtes Schmuckstück.
Transparenzblock: Das Buch habe ich im über NetGalley als Rezensionsexemplar kostenfrei erhalten. Verpflichtungen (beispielsweise eine »wohlwollende« Rezension) sind damit, abgesehen von eben einer Rezension, nicht verbunden. Meine Meinung über das Buch, die ich hier kund tue, wird dadurch nicht beeinflusst.
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Die Letzten ihrer Art (von Maja Lunde)
Autor: Maja Lunde
Erschienen: 2019
Seiten: 640

St. Petersburg, 1881. Der Zoologe Michail erhält den Schädel eines Wildpferdes. Er meint, darin ein Takhi, ein ausgestorben geglaubtes Urpferd, zu erkennen. Gemeinsam mit dem deutschen Abenteurer Wilhelm Wolff begibt er sich auf eine Expedition in die Mongolei.
Mongolei, 1992. Tierärztin Karin und ihr Sohn Matthias bauen Forschungsstation auf. Karins Lebensaufgabe: Das Takhi, das nur noch in Zoos lebt, wieder auszuwildern. Verfallen ist sie den Tieren im Zweiten Weltkrieg auf dem Anwesen Hermann Görings. Die Probleme ihres Sohnes machen es ihr nicht immer einfacher.
Norwegen, 2064. Die Klimakrise hat sich verschärft. Weite Teile Europas sind zusammengebrochen, wer kann, flieht nach Norden. Eva und ihre Tochter Isa verharren auf ihrem Hof, wo Eva alles tut, um die letzten Takhis, die sie noch beheimatet, zu retten. Geplagt von Mangel und Hunger drängt Isa ihre Mutter, endlich gen Norden zu ziehen, da taucht plötzlich Louise in ihrem Leben auf.
Die Letzten ihrer Art in der dritte Teil in Maja Lundes Klimaquartett. Das Buch umfasst 640 und erschien 2019 bei btb, einem Imprint von Random House.
Um das mal vorweg zu nehmen: In Die Letzten ihrer Art lässt Maja Lunde eine ganze Menge Pferde sterben und man ist immer hautnah dabei. Ich hab’s da wie mit Hunden, das geht mir immer ziemlich nah.
Wie schon im ersten Teil des Klimaquartetts widmet Maja Lunde den dritten wieder einer spezifischen Art: Dem Przewalski-Pferd oder Takhi, einem mongolischen Urpferd, das lange Zeit als ausgestorben galt. Ende des 19. Jahrhunderts wurde es wiederentdeckt und in zahlreichen europäischen Zoos angesiedelt. So wurde die Art in Gefangenschaft langsam wieder aufgebaut. Seit den 1990er Jahren laufen diverse Programme, um das Takhi wieder in seinen ursprünglichen Lebensräumen auszuwildern. In mehreren meist Nationalparks und Schutzgebieten insbesondere in der Mongolei leben heute so wieder wilde Takhis.
Strukturell bleibt sich Maja Lunde treu. Die Letzten ihrer Art erzählt in drei zeitlich klar getrennten Handlungssträngen die Geschichte der Takhis über die Jahrhunderte. Der Michail-Strang wird dabei in einer Art Reisebericht, den er als Autor nach seiner Expedition veröffentlichen will, erzählt. Karin und Eva erzählen ihre Geschichten aus ihrer Perspektive, in Evas Strang finden sich zudem regelmäßig Briefe von Isa an ihren schon geflohenen Freund Lars. Die gesamte Handlung ist fiktional, die Stränge um Michail und Karin sind aber an historische Ereignisse angelehnt.
Ich bin mir nicht hundertprozentig sicher, aber es könnte sein, dass Lunde mit Louise, die im Zukunftsstrang auftaucht, die Geschichte von Lou aus Die Geschichte des Wassers weitererzählt. Von ihrem Hintergrund her könnte es passen, auch die betonte Erwähnung ihres Rucksacks spricht dafür.
Insgesamt erzählt Maja Lunde durch den Zukunftsstrang wieder eine recht dystopische Geschichte. Die Stimmung ist gerade hier beklemmend und von Hoffnungslosigkeit geprägt. Über allem schwebt die Entscheidung über die Flucht und damit wahrscheinlich das Ende der Tiere. Die beiden anderen Stränge, insbesondere der Michail-Strang, wirken dem entgegen, trotzdem bleibt am Schluss die Zukunft. Maja Lunde dreht das zum Schluss geschickt, so dass Die Letzten ihrer Art nicht ganz hoffnungslos endet.
Auch der dritte Band ihres Klimaquartetts ist wieder ein fein recherchiertes, lautes Plädoyer für ein drastisches Umdenken in unserem Umgang mit dem Klimawandel – und damit weiten Teilen unserer westlichen Lebensart. Maja Lunde schafft es, das mit leisen Tönen zu erreichen. Der Roman wirkt als Gesamtwerk, nicht durch laute Belehrungen. Ihre Botschaft erschließt sich implizit, ohne laut ausgesprochen werden zu müssen. Das alleine schon macht die Reihe für mich besonders wertvoll, weil sie auf diese Weise nicht belehrend oder rechthaberisch daher kommt. Die Debatte ist so vergiftet, da würde eine andere Vorgehensweise bei Zweiflern sofort abgeblockt. So aber gelingt ein Zugang zu einer ganz spezifischen Geschichte und über sie ein Blick auf das große Ganze.
Wie für die beiden Vorgänger, gibt es auch für Die Letzten ihrer Art eine klare Leseempfehlung. Das Buch ist einfühlsam geschrieben, detailreich recherchiert und gibt so einen Einblick in eine Welt, die schon geschah, und wo sie wohl enden wird, wenn wir unsere Lebensart nicht radikal überdenken. Ein toller Roman zur richtigen Zeit.
Klimaquartett
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Maschinen wie ich (von Ian McEwan)
Autor: Ian McEwan
Erschienen: 2019
Seiten: 404

Charlie, 32, lässt sich mehr schlecht als recht vom Leben und seinen Künsten im Börsenhandel treiben. Miranda, 10 Jahre jünger, Studentin, Nachbarin und die aktuelle Liebe seines Lebens, kämpft mit ihrer Vergangenheit. Als 1982 die ersten humanoiden Roboter mit realistischer KI auf den Markt kommen, investiert der computerbegeisterte Charlie eine Erbschaft in einen dieser »Adams«. Das Experiment zeigt bald Schwächen, die beider Leben dramatisch verändern sollen. Oder sind es doch die Schwächen der Menschen?
Maschinen wie ich vom britischen Bestsellerautor Ian McEwan wird seit 2019 bei Diogenes verlegt. Das Buch umfasst 404 Seiten und beschreibt die Geschichte aus der Sicht des Protagonisten Charlie.
Maschinen wie ich spielt in einer modifizierten Vergangenheit in London. 1982 stehen die Briten kurz vor dem Falklandkrieg, den sie mit einer krachenden Niederlage verlieren werden, bevor sie ihn richtig begonnen haben. Mittelfristig wird Margaret Thatcher das das Amt kosten und Labour an die Macht bringen. Die kommen, leider einmal mehr, mit linken Positionen nicht über erfolgreichen Populismus im Wahlkampf hinaus. Die Gesellschaft ist zutiefst gespalten, womit McEwan an die gegenwärtige Lage anknüpft. Der Brexit steht auf dem Tableau, ebenso wie ein dringend notwendiges Grundeinkommen, denn …
… hier kommt McEwans zweite große Modifikation ins Spiel. Die Computerentwicklung ist auf dem Stand von morgen. Eine sehr kleine Charge erster menschlicher Androiden kommt auf dem Markt. Triebfeder dafür war maßgeblich Alan Turing, der nicht 1954 durch Suizid in Folge einer chemischen Kastration verstarb. Er führt sein Werk weiter und macht bahnbrechende Fortschritte auf dem Feld der künstlichen Intelligenz, die er der Welt open source zur Verfügung stellt. So sieht sich die Gesellschaft schon 1982 mit dem Problem konfrontiert, wie ›perfekte Menschen‹ mit uns unperfekten klar kommen können und umgekehrt. Diese Frage hat McEwan zum Kern seines Romans gemacht.
McEwan geht dabei im Prinzip relativ simpel vor, denn die Story an sich ist nicht allzu umfassend. Er wirft den Androiden Adam, ausgestattet mit einem Bewusstsein und, das war unerwartet, der Fähigkeit Gefühle zu entwickeln, in den Mikrokosmos des Lebens von Charlie und Miranda. Beide sind ganz normale Menschen, beide machen ganz normale menschliche Fehler. An dieser Stelle kollidieren die beiden Welten, denn, Bewusstsein und Gefühle hin oder her, Adam basiert immer noch auf Regeln abseits von moralischem oder menschlichem Ermessen. Wo der Mensch eine Notlüge vorzieht, ist Adam dazu nicht in der Lage, analysiert das Gesamtproblem und handelt logisch pragmatisch. Der Mensch aber, der kleine und größere Regelverstöße aufgrund moralischer Abwägungen fest kultiviert (Stichwort Notlüge) hat, kann mit dieser logischen Konsequenz überhaupt nicht umgehen.
Maschinen wie ich könnte ein wirklich gutes Buch sein, das Thema und die Umsetzung geben das auf jeden Fall her. Leider kann sich McEwan aber für mich nicht entscheiden, ob er einen Roman oder eine philosophische Abhandlung schreiben will. Gerade in der ersten Hälfte konnte mich das Buch nur schwer fesseln, weil die Handlung immer wieder von seitenlangen philosophischen Phasen oder ausgedehnten historischen Einordnungen unterbrochen wurde. Erschwerend kommt hinzu, dass McEwan besonders in den Teilen seinen wissenschaftlichen Hintergrund nicht im Zaum halten kann. Seine Sprache gleicht da mehr einem wissenschaftlichen Tagebuch, was üblicherweise alles andere als unterhaltsam ist. Dass das anders geht und man trotzdem ein hohes wissenschaftliches Niveau im Werk unterbringen kann, beweisen beispielsweise Daniel Suarez und Maja Lunde. Hinzu kommt, dass mir McEwan in der ersten Hälfte im Prinzip keinen seiner Charaktere sympathisch machen konnte. Alle kommen, da ist ein Stück weit auch die Sprache verantwortlich, etwas arrogant und oberlehrerhaft rüber. Das hält etwa bis zu dem Punkt an, an dem Adam seine Fähigkeit zu Gefühlen entdeckt.
In der zweiten Hälfte verbessert sich das zwar, doch auch hier finden sich seitenlange wissenschaftliche Monologe, teilweise mit Wiederholungen (Alan Turings Lebenslauf wird beispielsweise zweimal ausführlich erzählt, wobei das zweite Mal noch ein Stück ausführlicher ist). Ich musste das Buch mehrmals gezielt an Stellen, an denen es von Handlung zu Abhandlung wechselt, unterbrechen, um wenigstens ein bisschen in der Geschichte zu bleiben. Gemessen am Umfang der Handlung könnte man fast sagen, der Roman ginge als Novelle durch, wenn man die Abhandlungen auf ein für die Handlung notwendiges Maß zusammenstreichen würde. Das ist schade, denn, wie gesagt, Thema und Umsetzung geben eigentlich viel mehr her.
So komme ich abschließend zu keinem echten Urteil, Maschinen wie ich lässt mich zwiegespalten zurück. Wer mit den Abhandlungen und Handlungsunterbrechungen leben kann, der bekommt ein zukünftig wichtiges Buch mit spannender Umsetzung. Wer das nicht kann, der wird es wahrscheinlich recht schnell wieder weglegen.
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Kurzbio

Thomas liest, schreibt drüber, ist von der Menschheit im Allgemeinen genervt und schreibt auch mal da drüber.
Letzteres tut ihm jetzt schon Leid, ersteres nicht.
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