2024 – Singularity (von Matt Javis)
Autor: Matt Javis
Erschienen: 2019
Seiten: 301

Lou und seine Mitbewohner:innen bilden eine szenetypische Tüftler-WG in Pasadena. Künstliche Intelligenz ist insbesondere sein Thema, hier ist der junge Mann Experte. Nachdem Tarja einzieht, wird die WG plötzlich brutal überfallen. Die Neue scheint überraschend vorbereitet und flüchtet gemeinsam mit Lou. Schnell wird klar, dass Lous KI-Forschung ins Visier staatlicher und wirtschaftlicher Interessensgruppen gelangt ist und er sich mit mächtigen Gegnern befassen muss.
2024 – Singularity ist mir irgendwo zwischen LovelyBooks und mojoreads begegnet. Der Techroman markiert das Romandebüt des Physikers und Softwareentwicklers Martin Kreyscher unter dem Pseudonym Matt Javis. Das Buch erschien im Selbstverlag, was sicher nicht an seiner Qualität lag.
Spannend und etwas gewöhnungsbedürftig fand ich gleich im ersten Teil der Handlung die Zeitsprünge. Zu Beginn hatte ich das Buch nebenbei gelesen, so dass ich zwischendurch Gefahr lief, den zeitlichen Überblick zu verlieren. Das gibt sich aber recht schnell und die Kontinuität der Erzählung leidet kaum unter den zeitlichen ›Lücken‹ in der Handlung. Spätestens, bis die Handlung Fahrt aufnahm, war ich in der Geschichte drin.
Vernachlässigt hat Javis für mich ein wenig seine Figuren. Lou bekommt Tiefe, das lässt sich kaum vermeiden, schließlich begleitet der Großteil des Romans ihn. Bei Tarja wird es schon weniger, obwohl auch sie viel mit im Mittelpunkt steht. Alle anderen Figuren, inkl. Markov, bleiben leider etwas blass. Insgesamt hatte ich öfter das Gefühl, ein paar mehr Seiten hier und da hätten durchaus noch sein können. Ein häufiges Phänomen bei selbstverlegten Büchern, das nicht selten auf den Druckkosten fußt. Insofern möchte ich das nicht überbewerten, da muss man halt den Spagat zwischen Handlung und marktverträglichem Preis finden und das ist nicht unbedingt einfach.
Außerdem hat Javis den Platz für eine tolle Handlung genutzt. 2024 – Singularity glänzt als Techroman im KI-Segment. Nach einem relativ gemütlichen Start geht das Buch recht schnell in seine rasante Phase über, die kaum unterbrochen bis zum Ende anhält. Neben den genreüblichen, recht allgemeinethischen Fragen zum Komplex KI wirft Javis auch solche wie etwa die nach den ›Eigentümern‹ (was eigentlich das falsche Wort ist) einer starken KI auf. Ob also ein potenziell so mächtiges Instrument (was auch wieder das falsche Wort ist) in den Händen der Wirtschaft liegen darf. Eine der zahlreichen Fragen, mit denen sich Politik und Gesellschaft schon heute dringend beschäftigen sollten, denn die Implikationen von starken KIs, sollten sie denn entwickelt werden, sind dann so unmittelbar und weitreichend, dass es zu spät sein wird, sich erst dann dieser Fragen zu widmen.
Was ich ein wenig schade finde, das zieht sich aber durch das gesamte KI-Genre, ist der Verzicht auf eine allgemeinverständliche Erklärung der Deep-Learning-Verfahren. Jawis geht da schon etwas weiter als üblich, indem er sein wissenschaftliches Paper zum Lernkonzept von Lucy, der KI des Romans, im Anhang anfügt. Allerdings ist das eben – nun ja – ein wissenschaftliches Paper. Die praktischen Grundlagen des Lernprozesses bleiben letztendlich eine Blackbox, es bleibt bei der üblichen Erklärung, man »füttert« die KI mit bestehenden Daten und sie lernt daraus. Sicher, Deep Learning ist ein reichlich abstraktes Konzept ebenso wie neuronale Netzwerke, aber es bleibt der Allgemeinheit eben auch abstrakt, wenn sie in Populärliteratur nie allgemeinverständlich, was selbstverständlich auch Simplifikation einschließt, erklärt werden. Javis versucht das zu Beginn mit dem Roboter Marvin und er schafft es da auch weiter, als viele Autor:innen zuvor, aber es bleibt doch vieles abstrakt.
Doch nun genug genörgelt, denn das wird 2024 – Singularity nicht gerecht. Sieht man mal von diesen technischen Kritikpunkten ab, bleibt das Buch ein spannender Techroman. Und für Fachkundige gibt es sogar noch ein bisschen Wissenschaft dazu. Ein gelungenes Debüt, das Lust auf mehr macht.
NSA – Nationales Sicherheits-Amt (von Andreas Eschbach)
Autor: Andreas Eschbach
Erschienen: 2020
Seiten: 796

Weimar mitten in der NS-Zeit. Helene Bodenkamp arbeitet als Programmstrickerin beim kaum bekannten Nationalen Sicherheits-Amt NSA. Tagein tagaus strickt sie Abfragen an ihrem Komputer, um aus den schier endlosen Datenbeständen des Dritten Reichs nützliche Erkenntnisse zu erlangen. Jedenfalls glaubt sie das. Als Heinrich Himmler persönlich das Amt besucht, bekommt sie erstmals mit, wozu ihre Arbeit wirklich nutzt – und ist schockiert.
Unterdessen weiß ihr Kollege Eugen Lettke genau, was das NSA tut. Als Analyst wertet er die Abfrageergebnisse aus, die die Programmstrickerinnen für ihn erstellen. Aber Eugen hat auch ganz persönliche Motive für seine Arbeit beim NSA – und die ziehen ihn mehr und mehr in den Abgrund.
NSA – Nationales Sicherheits-Amt ist der aktuelle Roman von Andreas Eschbach. Das Buch erschien 2020 bei Bastei Lübbe und umfasst 796 Seiten.
Meine Güte, was für ein scheiß trostloses Buch! Damit könnte schon alles über NSA – Nationales Sicherheits-Amt gesagt sein. Könnte, wäre es nicht so enorm politisch und in Zeiten von Big Data und zunehmender Überwachung so furchtbar aktuell.
Andreas Eschbach entwirft in seinem Roman eine alternative Realität der NS-Zeit. Die technologische Entwicklung ist nah am heutigen Zustand bzw. im Verlauf des Buches ein Stück weiter, es gibt Komputer, das Weltnetz, Datensilos (aka. Cloud-Services) und das Deutsche Forum als Social-Media-Komponente. Bargeld ist abgeschafft, bezahlt wird mit dem Mobiltelefon, das eine gar nicht verblüffende Ähnlichkeit zu heutigen Smartphones hat. Und es gibt Big Data. Der Staat sammelt alles und er wertet es aus. Hier kommen die Programmstrickerinnen ins Spiel und damit Helene Bodenkamp.
Was Eschbach damit demonstrieren will, ist das letzte Argument aller Überwachungsgegner: Wenn du schon kein Problem damit hast, dass eine ›dir freundlich gesonnene‹ Regierung alles über dich sammelt und auswertet, weil du ja nichts zu verbergen hast, wie sieht es aus, wenn plötzlich eine repressive Regierung an die Macht kommt und all die Daten und Möglichkeiten erbt? In Deutschland lässt sich dieses Szenario anschaulich an zwei Epochen durchspielen: Dem Dritten Reich und der DDR. Und eigentlich sollte man erwarten, dass gerade wir in Deutschland in der Hinsicht sehr vorsichtig sind. Ja, wir haben unser Datenschutzgesetz, das internationale Konzerne immer wieder beklagen. Doch die gesellschaftliche Grundskepsis schwindet schon seit längerem. »Ich hab ja nix zu verbergen« ist schon seit Jahren ein oft gehörtes Argument, wenn man Datenschutzbedenken äußert und man wird nur zu gerne wahlweise als paranoid, technologie- oder innovationsfeindlich abgestempelt. Das ist gefährlich, weil es eine der wichtigsten Debatten unsere Zukunft betreffend im Keim erstickt.
Mit NSA – Nationales Sicherheits-Amt bringt Andreas Eschbach also sozusagen einen Debattenbeitrag ein, der drastischer und anschaulicher kaum sein könnte. Das Dritte Reich mit den technologischen Überwachungsmöglichkeiten von heute, das will man sich wirklich nicht vorstellen. Wem die Zustände in China oder alles, was mit den Snowden-Enthüllungen kam, zu fern sind oder anderweitig nicht reichen, der kann die Gefahr nun in unserer eigenen jüngeren Geschichte erleben. Dass Eschbach hierfür das Dritte Reich und eben nicht die DDR gewählt hat, halte ich für sehr sinnvoll, weil das Dritte Reich und die Shoah mit diesen technologischen Möglichkeiten eben noch einmal erheblich verschlimmert worden wären. Man stelle sich vor, es gäbe tatsächlich kein Entrinnen mehr, weil man sich nicht verstecken kann. Wer sich ab einem Zeitpunkt x innerhalb der physischen Grenzen des Deutschen Reiches befindet und zu einer verfolgten Gruppe gehört, ist früher oder später tot. Fluchtmöglichkeiten gibt es nicht mehr, ebenso wenig Möglichkeiten sich zu verstecken, denn die Technik findet früher oder später jeden.
Eschbach beschränkt sich dabei nicht alleine auf die alternativen Entwicklungen. Große Teile des ziemlich dicken Romans widmen sich der Vorgeschichten von Helene und Eugen, um deren so gegensätzliches Verhalten im Dritten Reich zu erklären. Eugen, der hinterhältige Geheimdienstler, Helene, die bis zu ihrem Schlüsselerlebnis mit Himmler recht naive Zuarbeiterin. So bedient Eschbach auch teilweise bis heute vorherrschende Rollenklischees. Die Programmstrickerei – das Wort lässt es schon ahnen – ist ein typischer Frauenberuf, kaum vorstellbar, dass auch das männliche Gehirn dazu fähig ist. Im Verlauf des Romans lässt sich Eugen von Helene lehren, im Geheimen natürlich, nicht auszudenken, wenn das jemand mitbekäme.
Hinsichtlich Spannung zündet NSA – Nationales Sicherheits-Amt kein Feuerwerk, das störte mich aber nicht wirklich. Im Vordergrund steht das Gedankenexperiment, die einzelnen Handlungsstränge dürfen da hintenan stehen. Geht man mit einer anderen Erwartungshaltung an das Buch, könnte man es langatmig oder gar langweilig finden. Man sollte sich also schon vorher darüber im Klaren sein, was für ein Buch man hier lesen wird – dann ist es wirklich gut.
Andreas Eschbach gelingt mit NSA – Nationales Sicherheits-Amt ein ziemlich umfangreiches, detailliertes Gedankenexperiment in einer alternativen Vergangenheit. Zu einem Thema, das zu den wichtigsten unserer Zeit gehört. Das Buch ist ein Denkanstoß auf einem Diskussionsfeld, auf dem gerade die breite Masse dringend deutliche Denkanstöße braucht.
Transparenzblock: Diese Rezension ist auch auf meinem Profil bei mojoreads (Werbung) erschienen. mojoreads versteht sich als social bookstore und beteiligt seine User am Erlös aus Buchverkäufen, die u.a. auf ihre Rezensionen zurückgehen. Wenn du das Buch kaufen willst, würdest du mir eine Freude machen, wenn du es über meine dortige Rezension (Werbung) kaufst. Bedankt 🙂
Das Ting (von Artur Dziuk)
Autor: Artur Dziuk
Erschienen: 2019
Seiten: 463

Linus, Niu, Adam und Kasper stehen auf ganz unterschiedliche Weise an Scheidepunkten ihrer Leben, als sie zusammen finden und mit dem Ting ein Start-up gründen. Das Ting soll das Leben der Menschen verbessern. Auf Basis zahlreicher Körper- und Umgebungswerte erstellt die KI Handlungsempfehlungen, die jeden individuell voran bringen sollen. Die Anschubphase ist holprig, doch mit einer Verpflichtung, den Empfehlungen uneingeschränkt zu folgen, geraten die vier Gründer tatsächlich auf die Erfolgsspur. Doch diese Verpflichtung bleibt nicht folgenlos und so geraten ihre Leben immer tiefer in die Fänge des Tings – mit verheerenden Folgen.
Das Ting ist Artur Dziuks Debütroman und erschien 2019 beim dtv-Imprint bold. Auf 463 Seiten erzählt Dziuk die Geschichten der vier Gründer im Wechsel aus ihren eigenen Perspektiven.
Das Ting beginnt mit einer verhältnismäßig langen Charaktereinführung. Fast das gesamte erste Drittel des Buches treibt die Geschichte auf den ersten Blick kaum voran, sondern befasst sich stattdessen mit den Hintergründen der vier angehenden Gründer. Erst später im Buch wird klarer, dass viele Punkte, die im Lesefluss als Charaktereinführung stattfanden, doch stark mit dem Fortgang der Geschichte verbunden sind. Das kann in der Situation langatmig wirken, hat aber durchaus seinen Sinn.
Die Figuren selber sind dann auch sehr detailliert konstruiert. Artur Dziuk gibt sich große Mühe, sie menschlich zu machen, was ihm gut gelingt. Abgesehen von Kasper hatte ich bei keiner der Figuren Probleme, mich in ihre Handlungsentscheidungen zu versetzen. Und auch die Probleme mit Kasper, die sich vor allem gen Ende des Buches gebildet haben, ließen sich durch genaueres Nachdenken über das Buch aus der Welt schaffen.
Überhaupt ist Das Ting kein Buch, das seine Wirkung voll entfalten kann, wenn man nicht ein wenig über das Gelesene nachdenkt. Dziuk gelingt es, einen ganzen Haufen Kritik und Denkanstöße in seinem Werk zu platzieren. Das große Thema Selbstoptimierung und wie weit die Technologie dabei gehen sollte, ist omnipräsent über die komplette Geschichte. Spannend finde ich, dass Dziuk es schafft, die Technologie, die hinter dem Ting steckt, kaum zu zu spezifizieren – anders als das bei Science Fiction üblich ist. Man bekommt eine recht klare Sicht auf die Auswirkungen der Technik, aber keinen auf ihre eigentliche physische Manifestation. Sie wird in China gebaut, passt in ein Paket, hat zahlreiche Sensoren, nimmt auf irgendeine Weise eine ganze Reihe von Körper- und Umgebungswerten auf und kann sehr körpernahes Feedback geben. Inwieweit die Technik aber selber invasiv ist, bleibt beispielsweise ungenannt.
Technologie- bzw. Konzernkritik, die Dziuk bis zur Systemkritik ausweitet, nimmt daneben weiten Raum ein. Dabei beschränkt er sich nicht alleine auf die ethische Frage, wie viele Daten und Entscheidungen in die Hand von Konzernen und Algorithmen gelegt werden sollten. Auch die Unternehmensberatungs- und Investorenbranche kommt nicht allzu gut weg. Über allem schwebt die Frage, wie viel Kontrolle abgegeben werden sollte – sei es über das eigene Leben, die eigene Person, die eigene Idee und das eigene Unternehmen. Insgesamt zeichnet Dziuk ein ambivalentes Bild der Start-up-Szene: Einerseits die Freiheiten und nahezu uneingeschränkte Kreativität, andererseits die Zwänge, die mit der Finanzierung kommen. Ein wenig verstörend fand ich, dass Google zeitweise als moralische Instanz behandelt wird. Das gibt sich gegen Ende aber auch wieder, weil die Figur, die das hauptsächlich vertritt, die moralische Grundlage verliert.
Ein wenig schade fand ich, dass Dziuk, selber polnischer Herkunft, polnische Dialoganteile nicht im- oder explizit übersetzt. Man kann sich zwar in den meisten Fällen denken, was gesagt wurde, das ist aber weder sicher noch klappt es immer. Insgesamt ist das aber ein Kritikpunkt, der nicht ins Gewicht fällt.
Alles in allem ist Das Ting ein hochaktueller, unterhaltsamer und zum Nachdenken anregender Roman. Ein gelungenes Debüt in jedem Fall. Die Geschichte liest sich flüssig, Dziuk schreibt sehr angenehm, und die Figuren sind nachfühlbar, wenn auch nicht immer im ersten Moment. Eine klare Empfehlung nicht nur für Freunde von Techromanen, die großen Fragen, die Dziuk aufwirft, sollten uns allen Gedanken machen.
Transparenzblock: Diese Rezension ist auch auf meinem Profil bei mojoreads (Werbung) erschienen. mojoreads versteht sich als social bookstore und beteiligt seine User am Erlös aus Buchverkäufen, die u.a. auf ihre Rezensionen zurückgehen. Wenn du das Buch kaufen willst, würdest du mir eine Freude machen, wenn du es über meine dortige Rezension (Werbung) kaufst. Bedankt 🙂
Kurzbio

Thomas liest, schreibt drüber, ist von der Menschheit im Allgemeinen genervt und schreibt auch mal da drüber.
Letzteres tut ihm jetzt schon Leid, ersteres nicht.
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