Vorabrezension: Mein Leben als Sonntagskind (von Judith Visser)
Autor: Judith Visser
Erschienen: 2019
Seiten: 607

Jasmijn ist ein ganz normales Kind – doch das nur in ihrer Fantasie. Die echte Jasmijn weiß, dass sie anders als ihre Mitmenschen ist, aber nicht, wie sie mit ihnen umgehen soll. Warum sagen sie immer etwas anderes, als sie eigentlich sagen wollen? Warum erwarten sie immer Antworten auf Fragen, die sie gar nicht gestellt haben? Und überhaupt, warum muss es überall immer so laut und bunt sein, dass Jasmijn Migräne bekommt?
Mein Leben als Sonntagskind von Judith Visser erscheint am 2. Mai bei HarperCollins. Der autobiographische Coming-of-Age-Roman gliedert sich auf 607 Seiten mit Einleitung und Epilog in 136 überwiegend sehr kurze Kapitel. Erzählt wird in einer Art Tagebuchform aus der Ego-Perspektive. Das Hardcover habe ich als Rezensionsexemplar über Vorablesen bekommen, dafür möchte ich mich auch bei HarperCollins herzlich bedanken.
Judith Visser ist spätdiagnostizierte Aspergerin, so ist es auch ihre Romanfigur Jasmijn Vink. Mein Leben als Sonntagskind ist Vissers zwölftes Werk und das erste, das international verlegt wird. Der Roman begleitet Jasmijn vom ersten Tag der Vorschule bis ins Erwachsenenalter. Da es ein autobiographischer Roman ist, werde ich mir Kritik an der Story nicht anmaßen. Ich wüsste davon abgesehen auch nicht, wo ich sie üben sollte. Ich habe mich sehr bewusst auf die Rezensionsrunde beworben, habe mir ein tieferes Verständnis für die Wahrnehmung mit Autismus (jedenfalls eine Wahrnehmung) erhofft. Judith Visser hat meine Erwartungen da um Längen übertroffen. Insofern bin ich mir sicher, dass ich mit meiner Rezension weder ihr noch ihrem Werk gerecht werden werde. Aber ich will es versuchen.
Auf das Buch muss man sich einlassen, das fällt bei Vissers Erzählstil aber auch nicht schwer. Eindrücklich und mit viel Liebe zum Detail beschreibt sie durch das ganze Buch hindurch, wie Jasmijn als Autistin die Welt und die Lebewesen fühlt und wahrnimmt. Ist das in Gesprächssituationen noch recht einfach, weil Jasmijns Verständnis da einfach nur darauf beruht, den Gegenüber buchstäblich beim Wort zu nehmen, ist es in Wahrnehmungssituationen schon deutlich schwieriger. Wenn sie beispielsweise erzählt, dass ein Bild einer Situation über ihre Netzhaut schabt, dann musste ich mich anfangs daran erinnern, dass das durchaus auch wörtlich gemeint ist. Das gibt sich aber recht schnell, denn Visser lässt ihre Leserschaft so tief und eindrucksvoll in Jasmijns Kopf und Körper eintauchen, als nähme man die Welt tatsächlich als sie wahr. Mir fällt kein anderes Buch, das ich bis jetzt gelesen habe, ein, in dem das so gut gelang.
Wenn ich rezensiere, fasse ich mir meine Eindrücke nach jedem Kapitel mehr oder weniger kurz zusammen. Das führt dazu, dass ich immer wieder unterbrochen werde und normalerweise nicht so tief in die Geschichte eintauche. Ich erwähne das, weil es mir bei Mein Leben als Sonntagskind nicht passiert ist. Das Buch hat mich so sehr eingenommen, dass die Unterbrechungen, und mit Blick auf die kurzen Kapitel waren das wirklich viele, überhaupt keinen negativen Einfluss genommen haben.
Welchen Sinn hatte es dann, sich zu einem Grüppchen zu stellen und mitzumachen? Was brachte es, interessiert zu tun? Wenn man Interesse heuchelte, hielt man die anderen zum Narren. Dann ließ man das eigene Gehirn einen Marathon laufen, und wozu? Davon hatte niemand etwas. Also hielt man besser den Mund und blieb in seiner eigenen Welt. Ich gönne jedem seine Gleichgesinnten, solange er nicht erwartete, dass ich dazugehörte.
Das war alles andere als wählerisch.
Das hieß, dass man sich selbst treu blieb.
Das mag auch daran liegen, dass ich mich an vielen Stellen ein bisschen selber erkannt habe und auch das war ein Grund, aus dem ich das Buch lesen wollte. Das Zitat, das bin ich, in einer Präzision, die ich selber wohl nie erreicht hätte. So ging es mir an vielen Stellen. Gerade wenn es um Kommunikation und soziale Verhaltensregeln geht, hat Jasmijn einen ähnlich pragmatischen Blick auf die Welt wie ich. Ich bin nicht neurodivergent und die Wirkung ist eine viel weniger belastende, vor allem keine körperliche, aber ich bin da offenbar nicht ganz alleine. Das gibt mir mit dem Buch ein noch schöneres Gefühl.
So ist es auch kein Wunder, dass mich das Buch emotional mitgerissen hat. Ich habe an zahlreichen Stellen Rotz und Wasser mit Jasmijn geweint – wörtlich. Für ein bestimmtes Kapitel – wer das Buch liest, wird es mit Sicherheit leicht identifizieren – habe ich fast 45 Minuten gebraucht, weil ich spätestens nach jedem zweiten Satz nichts mehr sehen konnte. An anderen Stellen flossen die Tränen beim Mitfreuen. Ich kenne das zwar, dass manche Bücher größere emotionale Reaktionen in mir hervorrufen, aber die Intensität, mit der ich Jasmijn erlebt habe, war außergewöhnlich. Judith Visser gibt ihr eine Tiefe, die mir so noch nicht begegnet ist.
Als ich das Buch fertig gelesen hatte, war mein Hirn voll – im positiven Sinne. Ich konnte einen halben Tag nicht lesen, fernsehen, einfach nichts mehr aufnehmen. Mein Hirn hat sich angefühlt, als hätte es jetzt alles aufgenommen, was es aufnehmen muss. Das ist zwar nicht so und es ist auch sehr gut, dass es nicht so ist, aber für den Moment war das ein wirklich befriedigendes Gefühl, das ich so auch noch nicht erlebt habe.
Mein Leben als Sonntagskind möchte ich wirklich jedem ans Herz legen. Es vermittelt auf eindrucksvolle Weise, wie Menschen, die im Volksmund »halt anders« sind, die Welt wahrnehmen. Es ist zwar nicht zu verallgemeinern, dafür sind selbst Autisten zu unterschiedlich, aber es gibt einen Eindruck davon, was möglich ist. Alleine das kann das Verständnis schon erheblich erweitern. Und das würde uns allen helfen.
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Transparenzblock: Das Buch habe ich im Rahmen einer Buchverlosung über Vorablesen als Vorabrezensionsexemplar kostenfrei erhalten. Verpflichtungen (beispielsweise eine »wohlwollende« Rezension), abgesehen von eben einer Rezension, habe ich dabei keine. Meine Meinung über das Buch, die ich hier kund tue, wird dadurch nicht beeinflusst.
Transparenzblock: Diese Rezension ist auch auf meinem Profil bei mojoreads (Werbung) erschienen. mojoreads versteht sich als social bookstore und beteiligt seine User am Erlös aus Buchverkäufen, die u.a. auf ihre Rezensionen zurückgehen. Wenn du das Buch kaufen willst, würdest du mir eine Freude machen, wenn du es über meine dortige Rezension (Werbung) kaufst. Bedankt 🙂
Rezension: Donnas Baby (von Klaus-Peter Wolf)
Autor: Klaus-Peter Wolf
Erschienen: 2015
Seiten: 380

Donna ist 17 Jahre alt und lebt in einem behütetem Elternhaus. Ohne das Wissen ihrer Eltern geht sie mit ihren Freunden auf ein Musikfestival, dort entdeckt Jens sie und ist sofort hin und weg. Jens ist das genaue Gegenteil von Donna. Er lebt alleine, hat keine Arbeit und hält sich mit mehr oder weniger Kleinkriminalität über Wasser. Im Rausch der Gefühle (und einiger Joints) durchleben sie eine intensive Nacht miteinander. Sie entdecken eine Art Seelenpartnerschaft. Einige Zeit später kommt die Hiobsbotschaft: Donna ist schwanger und der dritte Monat ist schon vorbei. Ihre Gynäkologin, eine rigorose Abtreibungsgegnerin, hat die Schwangerschaft vorher verschwiegen. Daraus ergeben sich aber ganz neue Probleme und so finden sich Donna und Jens plötzlich ohne Geld und eine Perspektive auf der Flucht vor den Behörden und einem Pharmakonzern.
Donnas Baby stammt aus dem Jahr 1998, die aktuelle Fassung aus dem FISCHER Verlag ist von 2015 – die habe ich gelesen. Das Buch ist mit 380 Seiten recht dick für Klaus-Peter Wolf, gerade im ersten Teil geht davon recht viel für die Beschreibung der Charaktere drauf. Wolf gibt sich große Mühe, Geschichte, Psyche und Beweggründe von Donna, ihren Eltern und Jens verständlich zu machen. Das ist manchmal etwas langatmig, hilft aber sehr, ihre späteren Handlungen zu verstehen. Denn alle Charaktere brechen auf die eine oder andere Weise moderat oder radikal aus ihren gewohnten Verhaltensmustern aus.
Wolf selber klassifiziert sein Werk als Jugendroman; die Einschätzung kann ich, wie schon bei Feuerball, nur bedingt teilen. Das Buch ist in Sachen Sexualität und Gynäkologie schon ziemlich explizit, dazu kommen Gewaltszenen, die sich gegenüber Feuerball aber moderater zeigen. Leicht verdaulich ist die Geschichte gerade im zweiten Teil auch nicht immer, ganz im Gegenteil. Wenigstens gibt es diesmal statt einer ab-12- überhaupt keine Altersempfehlung.
Genug der Kritik. Donnas Baby ist zwar schon ein wenig in die Jahre gekommen, das merkt man aber eigentlich nur an den Stellen, an denen kaum jemand einen eigenen Computer zuhause stehen hat. Die Geschichte hat an Aktualität nicht verloren und die ist im Grunde eine zutiefst hoffnungsvolle, auch wenn sie phasenweise nicht den Eindruck macht. Man könnte sie irgendwo zwischen Romeo und Julia und Bonnie und Clyde einordnen – weniger Tragödie als erstere, weniger Killertrip als letztere. Im zweiten Teil wurde sie stellenweise so hart, dass ich Verdauungspausen einlegen musste. Die hielten allerdings nie lange an, denn gleichzeitig ist der zweite Teil so spannend, dass ich ihn nie lange unterbrechen konnte.
Mit dem Thema Schwangerschaftsabbruch belegt Wolf ein nach wie vor aktuelles Thema. Er geht es von einer eher ungewohnten Richtung an. Donna möchte, entgegen dem Zeitgeist ihrer Altersgenossinnen, nicht abtreiben, gerät aber an eine Gynäkologin, die sie in der Hinsicht gar nicht erst zu Wort kommen lässt. Sie ist radikale Abtreibungsgegnerin, »kennt die jungen Dinger« und verschweigt Donna die Schwangerschaft daher, bis das Zeitfenster für einen Abbruch geschlossen ist. Hochproblematisch wird das, weil Donna von ihrem Hausarzt Medikamente bekommt, bei denen unklar ist, ob sie das ungeborene Kind schädigen. Daraus ergibt sich für eine Reihe von Nebencharakteren ein vermeintlich einziger Ausweg: Die Schwangerschaft muss, weil mit Behinderung zu rechnen ist, verspätet abgebrochen werden. Ein Netz legt sich im Donna, einzig mit dem Ziel, den Abbruch für oder gegen ihren Willen durchzuführen.
Alles in allem habe ich das Buch gerne gelesen und schneller als erwartet. Den zweiten Teil konnte ich tatsächlich nur schwer unterbrechen, obwohl ich es zwischendurch musste. Unter 14 bis 16 Jahren würde ich Donnas Baby aber eher nicht empfehlen. Es ist gut, aber es ist auch recht happig.
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Kurzbio

Thomas liest, schreibt drüber, ist von der Menschheit im Allgemeinen genervt und schreibt auch mal da drüber.
Letzteres tut ihm jetzt schon Leid, ersteres nicht.
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