Rupert undercover – Ostfriesische Mission (von Klaus-Peter Wolf)
Autor: Klaus-Peter Wolf
Erschienen: 2020
Seiten: 384

Als großer Freund der Wolf’schen Ostfrieslandkrimis habe ich etwas skeptisch auf sein neues Spin-off mit Hauptkommissar Rupert in der Hauptrolle gewartet. Ich hatte da so meine Befürchtungen und leider hat Wolf es nicht geschafft, denen entgegen zu wirken. Aber fangen wir langsam an.
Hauptkommissar Rupert wollte schon lange zum BKA, wurde aber immer abgelehnt. Als diesem ein internationaler Drogenboss in die Finger gerät, kann das BKA nicht mehr an Rupert vorbei. Denn ausgerechnet der machohafte Ostfriese sieht dem Festgenommenen zum Verwechseln ähnlich. Rupert wird als sein Double in die Organisation geschleust, um sie von innen auszuleuchten. Kann ihm, auf sich alleine gestellt, der große Coup, auf den er schon so lange wartet, gelingen?
Ostfriesische Mission reiht sich vom Erzählstil her nahtlos in die restlichen Ostfrieslandkrimis im Universum des Polizeikommissariats Norden ein. Der Krimi ist spannend wie unterhaltsam. Bei der Tiefe der Figuren kommt Wolf nicht an sein übliches Maß heran. Rupert und die BKA’ler:innen sind beinahe die einzigen, deren Charakter tiefer beleuchtet werden. Bei der Norder Polizei ist natürlich nicht viel zu holen, die kennt man alle schon ziemlich gut. Aber insbesondere die Kriminellen bleiben diesmal ungewohnt blass, von einigen wenigen Ausnahmen, wie dem Geier abgesehen. Es dreht sich keineswegs alles um Rupert, obwohl er im Mittelpunkt steht, auch die übrigen Hauptfiguren der Klaasen-Reihe bekommen in der Handlung reichlich Raum. Mehr als beispielsweise im Sommerfeldt-Spin-off.
Abzusehen war das Spin-off um Rupert spätestens seit er seine eigenen Kurzkrimis bekommen hat. Damals befürchtete ich bei dem Schritt schon ein Problem für mich: Denn so beliebt Rupert auch unter den Fans ist, als Protagonist ist er ein problematischer Charakter. Er ist nicht selten das, was man lapidar politisch unkorrekt nennt. Sein Repertoire reicht von ziemlich ausgeprägtem Sexismus und Machismus bis zu Alltagsrassismus. Als Nebenfigur hat das funktioniert, weil er lange eine Rolle als eher unsympathischer, belächelter Antagonist zu den übrigen Figuren im Kommissariat eingenommen hat. Er wurde also mindestens implizit nicht als Vorbild dargestellt.
In Ostfriesische Mission und den Kurzkrimis ist er aber nun zum Protagonisten aufgestiegen und leider blendet Wolf seine Verhaltensweisen dabei nicht aus, wo es möglich ist. Neben dem allgegenwärtigen Sexismus, der in Ruperts Charakter so ausgeprägt ist, dass Wolf ihn unmöglich vermeiden kann, taucht auch recht früh im Buch schon das durchaus vermeidbare Z-Wort auf. Im Jahr 2020 ist das mindestens schade, vor allem, weil es für die Geschichte überhaupt nicht nötig wäre. Hätte Rupert seine eigentliche Rolle, würde das direkt auf die eine oder andere Weise gerügt. Als Protagonist hat er die aber nun nicht und so können seine Entgleisungen akzeptabel scheinen. Wie gesagt, die Entwicklung war abzusehen, Ruperts Standing innerhalb der Krimis hat sich in den letzten Jahren gewandelt. Er wurde schleichend immer akzeptabler.
Abseits dieser Problematik gibt es weniger, aber trotzdem reichlich ostfriesisches Lokalkolorit. Wolf hat die Messlatte in der Vergangenheit da recht hoch gehängt, so dass etwas weniger kaum ins Gewicht fällt. Er fängt die Stimmung ›am Deich‹ gewohnt gekonnt ein, man ist sofort dort. Auch NRW spielt wieder eine Rolle und auch dort gelingt es ihm, wie schon in der Vergangenheit, Atmosphäre zu schaffen.
Zum Schluss noch ein Wort zum Schluss. Denn der kommt abrupt. Nun bin ich von Wolf in der Hinsicht einiges gewohnt. Er lässt gerne einiges offen, er bricht gerne plötzlich ab. Normalerweise gefällt mir das ganz gut und in einer Reihe macht es auch durchaus Sinn, den Übergang zum nächsten Band zu gestalten. In Ostfriesische Mission übertreibt er das für meinen Geschmack aber sehr. Das Ende kommt insgesamt sehr kurz und es macht den Eindruck, da musste kurz vor der Deadline noch schnell was hingeklatscht werden. Ich könnte sagen, das würde Rupert gerecht, aber irgendwie war ich doch anderes gewohnt. In Ordnung geht, dass das Ende sehr offen ist. So ist es auch keine Überraschung, dass Ruperts zweiter Band schon angekündigt ist und zweifellos nahtlos an die Geschichte anknüpfen wird. Im Gegensatz zur Klaasen-Reihe ist hier also nicht nur die Rahmenhandlung buchübergreifend.
Das soll es sein. Klingt irgendwie sehr schlecht. Sieht man insbesondere von der Kritik an Rupert als Protagonist ab, bleibt insbesondere für Fans trotzdem ein weitgehend gelungener Ostfrieslandkrimi im bekannten Universum. Für Neueinsteiger ist Vorwissen nützlich aber kein Muss. Unterhaltsamer ist Ostfriesische Mission sicherlich mit Kenntnis insbesondere der Klaasen-Reihe.
Transparenzblock: Diese Rezension ist auch auf meinem Profil bei mojoreads (Werbung) erschienen. mojoreads versteht sich als social bookstore und beteiligt seine User am Erlös aus Buchverkäufen, die u.a. auf ihre Rezensionen zurückgehen. Wenn du das Buch kaufen willst, würdest du mir eine Freude machen, wenn du es über meine dortige Rezension (Werbung) kaufst. Bedankt 🙂
24. Oktober 2019
1:39, Watte im Kopf. Zum (immerhin produktiven) Reizhusten hat sich gestern noch Schnupfen gesellt. Dabei scheint es erst mal zu bleiben. Das ist reichlich ungünstig, in der Verfassung siegt am Samstag nämlich normalerweise noch das Verantwortungsbewusstsein gegen die medizinische Vernunft. Soll heißen, ich fahre auf die Großübung, hample den ganzen Tag im Kühlen rum und liege dann 2 Wochen richtig flach. Und das nur, weil kreisweit händeringend nach Einsatzkräften gesucht wird, die diesen seit Januar bekannten Quasi-Pflichttermin nicht absagen. Das nervt mich daran am meisten.
Unter der körperlichen Verfassung leidet auch die Schreiblust. Mittlerweile stauen sich drei Rezensionen auf der Liste – Britt-Marie war hier, Herr Sonneborn geht nach Brüssel und Alte weiße Männer. Läuft bei mir.
Gestern wurde ein junger Fahranfänger, der mit knapp 3 Promille ein Mädchen tot gefahren hat, wegen Schuldunfähigkeit zu lockeren 5000€ verurteilt. Die Empörungswelle war erwartbar enorm und ich teile sie sogar. Das Problem mit der Schuldfähigkeit bei Drogenkonsum ist doch ein diffuseres, als die Rechtssprechung üblicherweise abbildet. Wenn ich beispielsweise mit dem Auto zu einem Besäufnis fahre, plane ich doch in den seltensten Fällen, das Auto dann stehen zu lassen. Und ändere meinen Plan dann mit vollem Kopf. Insofern wird bei der Bewertung einfach der falsche Zeitpunkt angesetzt. Als ich nüchtern losgefahren bin, war ich nämlich noch zurechnungsfähig. Und im Prinzip kann man das auf alle aktiv begangenen Straftaten ausdehnen. Spätestens nach dem ersten Vollrausch hab ich nämlich eine recht genaue Vorstellung davon, wie mein Verhalten auf Alkohol reagiert. Wenn ich dann jemanden vergewaltige oder anderweitig verletze, bin ich schuldfähig, weil ich mich betrunken habe, obwohl ich wusste, dass ich dann übergriffig, reizbarer, aggressiver, gewalttätiger oder whatever werde. Die Entscheidung, mich mit dem Wissen zu betrinken, treffe ich nüchtern.
Wie kriege ich meinen alten Herrn dazu, Alte weiße Männer zu lesen und das auch noch unvoreingenommen? Das Buch wäre so gut für ihn, vor allem weil es eben kaum anklagend und ziemlich gut verständlich geschrieben ist. Aber leider wird das trotz akademischem Hintergrund wohl eher nix. Mein alter Herr ist das Paradebeispiel für die Frage, ob Ingenieure echte Wissenschaftler sind. Keine Woche her, seit ich den Spruch, er brauche kein Buch, er habe schon eins, das letzte Mal gehört habe. Es ist ein Jammer.
A propos Bücher: Ich hab gerade Folletts Jahrhundertsaga angefangen. Ich dachte mir vor langer Zeit – ich glaube, da war der dritte Teil gerade frisch raus – Follett muss man ja auch mal gelesen haben. So ungefähr wie die klassischen Klassiker – die ich allesamt auch nicht gelesen habe. Stand jetzt bereue ich den Vorstoß schon. Bin gespannt, wie das weiter geht.
Ansonsten gehörte der Tag der FDP. Die glänzt mal wieder mit einer genialen Idee: Rechtschreibfehler in Nazi-Graffitis korrektursprayen. Moment mal, das kenn ich doch irgendwoher, grübelt der Buchliebhaber. Richtig, die Idee hatte auch Marc-Uwe Klings Känguru schon umgesetzt. Mit einem kleinen Unterschied: Es hat den vermeintlich ungebildeten Stereotypnazis nicht nur die Orthographie, sondern auch den Inhalt korrigiert. Aber letzteres kann man von einer Lindner-FDP ja nun wirklich nicht erwarten.
Rezension: Jahre des Jägers (von Don Winslow)
Autor: Don Winslow
Erschienen: 2019
Seiten: 992

Art Keller hat sich mit Marisol zur Ruhe gesetzt. Adán Barrera starb im Dschungel von Guatemala, damit endete sein privater Teil des Drogenkrieges. Doch der lässt ihn nicht los. Als Adáns Leiche gefunden wird und somit endgültig feststeht, dass das Sinaloa-Kartell kopflos ist, rückt die dritte Generation nach, um ihre Machtansprüche geltend zu machen. Der brüchige Frieden, für den Adáns Führung garantierte, löst sich in Luft auf, Mexiko wird wieder mit Blut getränkt.
Unterdessen reaktivieren die USA Art und machen ihn zum Direktor der DEA. Er will die Strategie der Behörde umkrempeln, denn der bisherige Krieg gegen die Drogen muss als gescheitert angesehen werden. Doch das gestaltet sich in einer Zeit, in der neurechte Hardliner die mexikanische Grenze am liebsten abriegeln wollen, schwieriger denn je. Und ebendiese Hardliner schicken sich an, das Weiße Haus zu übernehmen.
Jahre des Jägers ist der dritte und letzte Teil in Don Winslows Trilogie über den US-amerikanischen Krieg gegen die Drogen. Das Buch erschien 2019 bei Droemer und umfasst stolze 992 Seiten.
Jahre des Jägers schließt chronologisch an Das Kartell an und umfasst damit die letzte Zeit der Obama-Präsidentschaft, den Wahlkampf 2016 und die erste Zeit der Trump-Präsidentschaft. Don Winslow bleibt hier nahe an der Realität der Charaktere. Im Gegensatz zu Obama taucht Donald Trump im Buch nicht namentlich auf, allerdings ist eindeutig, für wen Präsident Dennison steht. Winslow geht hier so weit, dass er, insbesondere im Wahlkampf und darüber hinaus die Mauer zu Mexiko betreffend, Originalreden und -tweets von Donald Trump zitiert. Auch sein Schwiegersohn Jared Kushner bekommt als Jason Lerner eine zentrale und eindeutige Rolle.
Nicht nur unter dem Gesichtspunkt, besonders nah am aktuelles Weltgeschehen zu sein, ist Jahre des Jägers für mich der wirkmächtigste Teil der Trilogie. Winslow steigert sich gegenüber Das Kartell auch noch einmal, indem er Opfern am untersten Ende der Nahrungskette des Drogengeschäfts zentrale Rollen gibt. Eindrücklich ist beispielsweise die Geschichte des kleinen Nico, der mit seiner besten Freundin die Flucht vor den Gangs in Guatemala antritt, es tatsächlich bis in die USA schafft, nur um dort durch die gleichen Gangs und das System in die Drogenkriminalität gezwungen zu werden. Oder die Geschichte von Jaqui, einer jungen Heroinsüchtigen, die sich zwischen Rausch und Entzug irgendwie durchs Leben schlägt.
Jahre des Jägers ist auch der offen politischste Teil der Trilogie. Gab es in den beiden anderen Bänden hauptsächlich implizite Kritik an der US-amerikanischen Drogenpolitik, zieht sich diese im dritten Band ganz explizit durch die gesamte Geschichte. Winslow spielt ein globales System der Vernetzung von Kartellen, Banken, Immobilienwirtschaft und Politik durch, das gemeinsam von Drogenhandel und -politik profitiert und daher überhaupt kein Interesse daran haben kann, die bestehenden Zustände zu ändern. Die Verflechtungen der aktuellen US-amerikanischen Administration, die dabei kaum besser als die langjährig gerügten mexikanischen Administrationen davon kommt, liegen nahe und werden dementsprechend schonungslos kritisiert.
Dabei jedoch bleibt es mit der expliziten Kritik nicht. Winslow widmet sich beispielsweise auch ausgiebig der Migrationspolitik und ihrer Profiteure. Anhand von Nicos Fluchtgeschichte zeigt er auf, wie die Privatwirtschaft von restriktiver Migrationspolitik profitiert, wie sich ein System, in dem Geflüchtete kriminalisiert und in die Kriminalität gezwungen, um dann in privatwirtschaftlich geführten Gefängnissen und Auffangeinrichtungen untergebracht zu werden, selbst trägt und kaum ein Interesse entwickeln kann, eine humanere und integrativere Agenda zu forcieren. Das Leid und die Ausweglosigkeit, die dieses System produziert, demonstriert Winslow eindrücklich.
Im Zentrum all dessen steht selbstverständlich Art Keller, der seinen letzten Kampf kämpfen muss: Den gegen das System. In einer Mischung aus Held und manchmal Antiheld, denn sauber war sein persönlicher Krieg ja oftmals nicht und auf dieser Basis erpresst ihn die Dennison-Administration nun, startet er als DEA-Direktor eine letzte Offensive gegen das ganze Netzwerk. Freunde macht er sich damit wenige – erst Recht in Zeiten, in denen jeder für seine Zukunft unter Dennison sorgen muss – dafür neue mächtige Feinde. Neben den Kartellen rückt ihm nun auch die (designierte) US-Administration auf die Pelle, seine Unterstützer in einflussreichen Positionen werden täglich weniger. Das hält ihn aber nicht davon ab, in einer letzten großen Schlacht reinen Tisch zu machen.
Jahre des Jägers ist ein wirkmächtiger Abschluss der Trilogie. Oftmals werden Fortsetzungen ja leider weniger stark als ihre Ursprünge, hier ist das ganz anders. Winslow ist es gelungen, sich mit jedem Band, auf einem hohen Niveau startend, noch weiter zu steigern, um die Trilogie mit einem gewaltigen Finale zu beenden. Das mag mit am noch frischen Realitätsbezug liegen, zweifellos aber auch an der Botschaft, die er vermitteln will. Jahre des Jägers ist ein Statement, ein flammender Appell gegen die kriminalisierende Drogenpolitik und Tage der Toten und Das Kartell haben auf diesen Appell hingearbeitet, um in einem runden, umfassenden Finale zu gipfeln. Derart gelungen sieht man das nicht so oft.
Nun aber genug der Worte, ich will ja nicht alles vorweg nehmen. Die Art Keller-Trilogie sollte man auf jeden Fall lesen, wenn man sich im Genre oder dem Thema wiederfindet. Es erwarten einen für drei Bücher zwar verhältnismäßig viele Seiten, aber keine davon ist überflüssig. Ganz im Gegenteil, vieles in der Geschichte hätte noch auf deutlich mehr Seiten ausgedehnt werden können, ohne an Spannung zu verlieren. Eine wirklich runde Sache.
Art Keller
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Rezension: Das Kartell (von Don Winslow)
Autor: Don Winslow
Erschienen: 2015
Seiten: 832

Nachdem er Adán Barrera, den mächtigsten Kartellboss Mexikos, in einem US-amerikanischen Hochsicherheitsgefängnis untergebracht hat, zieht sich Art Keller aus dem Drogenkrieg zurück. Sein Exil hat er in einem Kloster gefunden, in dem er Bienen züchtet. Doch der Drogenkrieg geht weiter. Adáns Einfluss reicht so weit, dass er einen Deal für sich abschließen kann, der ihn von den USA in mexikanische »Haft« bringt. Wenig später gelingt ihm die »Flucht« und Arts Ruhestand endet abrupt, als sein alter Chef Tim Taylor ihn um Hilfe bittet. Sein Wissen über die Kartelle und die Barreras speziell ist zu unentbehrlich, um in der Bienenzucht zu vergehen.
Don Winslows zweiter Teil der Trilogie um den Drogenkrieg um die und jenseits der Südgrenze der USA erschien 2015 bei Droemer. Das Kartell umfasst 832 Seiten und schließt chronologisch an Tage der Toten an.
Das Buch dreht sich um den US-amerikanischen Drogenkrieg, hauptsächlich in Mexiko. Es gibt Exkurse nach Guatemala und zur ‚Ngrangheta in Europa, außerdem zu den Verwicklungen zum islamistischen Terrorismus. Der weitaus größte Teil der Geschichte spielt aber in Mexiko. Das Buch ist, wie schon Tage der Toten, intensiv recherchiert und orientiert sich im Rahmen an der historischen Realität, die Geschichte selbst allerdings ist Fiktion. Behandelt wird der Zeitraum der Nullerjahre und ein Stück darüber hinaus.
Wieder zurück im Geschehen muss Art Keller feststellen, dass sich die Kartelle in Mexiko zunehmend brutalisieren. Waren zivile Opfer früher eher die notwendige Ausnahme, nutzt eine zunehmende Zahl von Kartellen sie mehr und mehr als normale Strategie im Krieg. Mexiko wird zum Schlachtfeld – Betonung auf der ersten Silbe -, Städte werden entvölkert, die Kartelle bauen sich paramilitärische Armeen auf und die staatlichen Behörden sind entweder Nutznießer der Kartelle, sehr schnell ausgelöscht oder stehen den Kartellen in Brutalität und Willkür in nichts nach. Im wahrsten Sinne des Wortes zerrieben wird dazwischen die Bevölkerung.
Auch das Geschäftsfeld der Kartelle beginnt einen Wandel. Ging es früher noch hauptsächlich um Drogenproduktion und -transport, sowie Geldwäsche, etwas Schutzgelderpressung und Straßenkriminalität im Allgemeinen, so wandelt sich dies hin zu den großen internationalen Feldern. Öl wird interessant, ebenso globaler Waffenhandel. Die Kartelle haben astronomische Vermögen aus ihrem Kerngeschäft gezogen, dieses Geld muss irgendwo arbeiten. Gerade das Öl verschärft die Kämpfe um ölreiche Regionen in Mexiko. Winslow nimmt, um die Folgen des Drogenkrieges für die Bevölkerung schonungslos zu verdeutlichen, Ciudad Juárez zu einem seiner zentralen Handlungsorte. Die Stadt litt tatsächlich schwer unter dem Krieg zwischen Kartellen und Behörden und die Handlung ist in all ihrer Brutalität stark an die historischen Ereignisse angelehnt.
Auch in Das Kartell schwebt zwischen den Zeilen immer Winslows Kritik an der kriminalisierenden Drogenpolitik. Und wie schon im ersten Band zeigt er wieder schonungslos auf, wie alle Kriegsparteien letztendlich von dieser Politik profitieren – auf Kosten der Bevölkerung. Gegen Ende spricht er seine Kritik auch nochmal explizit aus. Eine hervorgehobene Rolle bekommen Journalisten, die nun gezielt Opfer werden, und die Frauenmorde von Ciudad Juárez.
Anknüpfend an den ersten Teil ist auch Das Kartell zwar ein sehr dickes Buch, wird aber nicht langweilig. Winslow schreibt flüssig, erinnert stilistisch wieder ein wenig an Sin City. Seine Figuren stellt er ausführlich dar, so werden auch die Beweggründe der größten Unsympathen zwar nicht akzeptabel, aber verständlich. Auch die Zivilbevölkerung bekommt durch eigene Figuren und Handlungsstränge viel Raum, um ihr Leid zu vermitteln. Gerade das Dilemma der Journalisten, die ab einem gewissen Punkt entweder gar nicht mehr oder mit der Stimme der jeweiligen Besatzer berichten können, nimmt eine zentrale Rolle ein. Winslow zeigt, wie sich in den Nullerjahren daraus das Aufkommen der Bloggerszene als Parallelfeld des klassischen Journalismus‘ entwickelt.
Das Kartell ist epochal, wie sein Vorgänger Tage der Toten. Der behandelte Zeitraum ist zwar deutlich kürzer, die Handlung dadurch aber nicht weniger mächtig. Das Buch ist lang, erschlägt die Lesenden aber nicht. Und es gibt tiefe Einblicke in ein Stück Geschichte der amerikanischen Kontinente, die wir hier nur am Rande erlebt haben. Absolut lesenswert.
Art Keller
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Rezension: Tage der Toten (von Don Winslow)
Autor: Don Winslow
Erschienen: 2010
Seiten: 689

Nachdem er im Vietnamkrieg gedient hat, wechselt Art Keller in die Drogenfahndung. Augenscheinlich haben die USA ein Problem, denn von Mexiko aus überschwemmen mächtige Kartelle das Land mit immer neuen Drogen. Keller ist engagiert, gerät immer tiefer in das Milieu – doch je tiefer er eintaucht, desto erschreckender werden die Verstrickungen, auf die er stößt. Seine Hartnäckigkeit bringt ihn bald in Lebensgefahr, doch Aufgeben ist für ihn keine Option.
Tage der Toten ist der erste Band in Don Winslows Trilogie um Art Keller. Das Buch umfasst 689 Seiten und erschien 2010 bei Suhrkamp. Die aktuelle Auflage stammt aus dem Jahr 2012.
Um das gleich mal vorweg zu nehmen: Tage der Toten ist ein epochales Werk. Winslow hat sechs Jahre für das Buch recherchiert und das ist auch nicht zu übersehen. Herausgekommen ist ein spannungsgeladener Querschnitt durch die Geschichte des Drogenkrieges auf den amerikanischen Kontinenten. Im Mittelpunkt stehen die Südgrenze der USA und Mexiko, später kommt Kolumbien dazu, weitere Länder werden gestreift.
Winslow beschränkt sich auch nicht auf eine Hauptfigur, auch wenn Art Keller zweifellos der Protagonist ist. Neben ihm erzählt er vor allem die Geschichte der Barreras, die das mächtigste Drogenkartell Mexikos führen und Triebfeder bei der Professionalisierung der Kartelle im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts sind. Weitere Figuren aus dem Kreis der italienischen und irischen Mafia in den USA, der Edelprostitution, der katholischen Kirche in Mexiko und mehr oder weniger offene Geheimdienstler beider Staaten spielen ausführliche Rollen. Die Tiefe der einzelnen Charaktere geht so weit, dass es mir fast schwer fällt, von einzelnen Handlungssträngen zu reden.
Die Tiefe, die Winslow seinen Figuren zukommen lässt, steht in nichts der Tiefe der Geschichte nach. Er zeigt detailliert aus unterschiedlicher Sicht auf, wie sich der Drogenkrieg seit dem Ende des Vietnamkriegs entwickelt hat, warum was geschah und wie vielfältig die Profiteure sind. Die Rolle von Regierungen und Behörden beschreibt er dabei schonungslos. Winslow ist entschiedener Gegner der kriminalisierenden Drogenpolitik, das ist auch in Tage der Toten unübersehbar. Er vertritt die Meinung, dass ein Großteil der Kapitalverbrechen unmittelbar oder im weitesten Sinne mit der Drogenkriminalität zusammen hängt, weil im Drogenmarkt exorbitant viel Geld steckt. Würde dem Markt die Illegalität genommen, würden seine Auseinandersetzungen im Rahmen des Rechtssystems geführt.
Haben Sie mal zwei konkurrierende Bierhersteller erlebt, die ihren Disput mit Maschinenpistolen austragen? Ich nicht. Weil sie ihren Streit offen austragen oder vor Gericht ziehen können.
Dabei beschränkt sich Tage der Toten keineswegs rein auf die Drogenaspekte. Winslow erläutert beispielsweise die Zusammenhänge mit dem illegalen Waffenhandel oder dem US-amerikanischen ›Kampf gegen den Kommunismus‹ in Mittel- und Südamerika. Auch Parallelen zu vielen weiteren globalpolitischen Strategien der USA werden gezogen, beispielsweise der Interventionspolitik im Nahen Osten. Insgesamt zeichnet Winslow ein ebenso erschreckendes wie wohl in hohem Maße realistisches Bild der Politik der USA und insbesondere Mexikos und Kolumbiens. Gleichzeitig beschreibt er, wie sich im Fahrwasser dieser Politik Mafia und Kartelle weiter etablieren konnten und sich immer wieder der Lage anpassten. Durch die Tiefe der Figuren erhält man dabei fast eine Art von Verständnis für ihr Handeln, allerdings achtet Winslow darauf, dieses nicht zu glorifizieren. Er erklärt quasi ihren Lebensweg, macht durch ihre offene Brutalität aber immer wieder klar, auf welcher Seite der Medaille sie einzuordnen sind.
Ein paar Worte will ich doch noch zu meiner Erfahrung mit dem Buch verlieren. Winslow erzählt die Geschichte in einer Weise, die mich an Sin City erinnert hat. Das gefällt mir auf jeden Fall sehr gut. Es fiel mir etwas schwer, in die Geschichte zu finden. Gerade zu Beginn ziehen sich Rückblicke im Rahmen der Charaktereinführungen wirklich sehr ausgiebig, die Jetzt-Zeit wird dadurch ständig lange unterbrochen und die aktuelle Handlung kommt quasi überhaupt nicht weiter. Das zieht sich am Anfang über wirklich sehr viele Seiten, so dass ich meine Probleme damit hatte. Da das Buch sehr dick ist und mir der Einstieg nicht so ganz gelang, fiel mir erst am Schluss auf, dass Winslow im Prolog mit dem Ende der Handlung beginnt und die Geschichte, die an diese Stelle geführt hat, dann im Rest des Buches quasi rückblickend erzählt.
Das soll jetzt aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Tage der Toten ein wirklich großartiges Buch ist. Es ist aufwendig recherchiert, fesselnd geschrieben und durchaus lehrreich, wenn es um die Zusammenhänge im Drogenkrieg auf den amerikanischen Kontinenten geht. Und erfreulicherweise gibt es ja auch noch zwei weitere Bände.
Art Keller
Transparenzblock: Diese Rezension ist auch auf meinem Profil bei mojoreads (Werbung) erschienen. mojoreads versteht sich als social bookstore und beteiligt seine User am Erlös aus Buchverkäufen, die u.a. auf ihre Rezensionen zurückgehen. Wenn du das Buch kaufen willst, würdest du mir eine Freude machen, wenn du es über meine dortige Rezension (Werbung) kaufst. Bedankt 🙂
Kurzbio

Thomas liest, schreibt drüber, ist von der Menschheit im Allgemeinen genervt und schreibt auch mal da drüber.
Letzteres tut ihm jetzt schon Leid, ersteres nicht.
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