Lesedauer3 Min, 63 Sek
Titel: Abgestürzt
Autor*in: Johannes Wilkes
Verlag: Prolibris
Erschienen: 27.03.2019
Seiten: 226

Frontcover

Saal 600 des Nürnberger Justizpalastes, der legendäre Schauplatz der Nürnberger Prozesse, ist der Ort, an dem geklärt werden soll, ob Fersal Jedden seinen Freund Cornelius Fischer ermordet hat. Fersal kam als Geflüchteter aus Afghanistan, verliebte sich in die in der Geflüchtetenhilfe engagierte Maria Fischer Cornelius' Partnerin und am Ende stirbt Cornelius. Dirk Zimmermann, kriegsversehrter Gerichtsreporter und seit Kindesbeinen unsterblich in Maria verliebt, beobachtet den Prozess und kämpft mit seinen inneren Dämonen. Was geschah wirklich in der Nacht vom 3. auf den 4. September 2016?

Ich muss gleich sagen, Abgestürzt war mein erster Gerichtskrimi. Ich habe mich vor dem Genre immer gedrückt, weil es zu viel Potenzial zu Langatmigkeit hat. Auf ein Rezensionsexemplar habe ich mich eigentlich nur auf gut Glück beworben, weil Johannes Wilkes auch Inselkrimis schreibt ein Genre, auf das ich wegen des trockenen Humors der Nordlichter total stehe und mich das Thema grundsätzlich sehr interessiert. Ich wurde positiv überrascht.

Zum Technischen: In Abgestürzt steht, gemessen an den Textanteilen, weniger der Prozess an sich, als die Hintergründe der drei Protagonist*innen im Fokus. Einfühlsam erzählt Wilkes, wie sie zu den Menschen wurden, die sie heute sind und wie es zum schicksalhaften Tag gekommen ist. Den Tathergang an sich lässt er dabei bis zum Schluss mehr oder weniger offen. Besonders Dirks innere Kämpfe tragen dies maßgeblich. Wilkes spielt nicht wild mit Spannungsspitzen, er baut die Spannung von Beginn bis Ende kontinuierlich auf. Das fand ich, besonders für einen Krimi, ungewohnt, trotzdem tat es dem Buch gut. Es wurde unberechenbarer, weil die Spannungsspitzen zu den gewohnten Zeitpunkten eben nicht kamen. Insgesamt hat das Buch mit 226 Seiten für mich genau die richtige Länge. Ich habe es bequem in zwei Tagen durchgelesen und es fiel mir trotz der flachen Spannungskurve schwer, es weg zu legen. Wäre es länger, wäre die Spannungskurve wahrscheinlich noch weiter abgeflacht, dann wäre das vielleicht anders gewesen.

Über dem gesamten Prozessverlauf schwebt das Wetter bzw. das Klima im Gerichtssaal. Das fiel mir bewusst zwar relativ spät auf, ist aber ein feines Detail, weil es die jeweilige Stimmung im Saal unterstützt. Mein Highlight waren dabei die Episoden mit Gerichtsdiener Gerd Diehl, den ich im Laufe des Buches etwas vermisst habe. Die Figur Diehl ist genau dieses trocken humoristische Element aus der Küstenliteratur. Ich liebe das.

Neben den ausführlichen Retrospektiven bis zurück in die Kindheit der drei Protagonist*innen, die so einfühlsam geschrieben sind, dass sie kaum langatmig werden, lässt Wilkes immer wieder gesellschafts- und systemkritische Episoden einfließen. Gerade bei denen, die sich auf historische Begebenheiten bezogen, war mir vieles unbekannt. Die ambivalente Rolle Richard von Weizsäckers in den Nürnberger Prozessen beispielsweise oder auch die Entwicklung der deutsch-afghanischen Beziehungen unter Amanullah Khan, in denen Wilkes die Ursache für das ›Wunschziel Deutschland‹ der heutigen Geflüchtetenbewegungen ausmacht. Dazu kommen kritische Episoden zur deutschen Beteiligung am Afghanistan-Krieg aus Soldatensicht, zur Grausamkeit des Asylrechts, der Justiz an sich oder der NS-Aufarbeitung. Beinahe nahtlos fügt Wilkes diese Episoden in seine Geschichte ein, das gefällt mir sehr.

Eine besondere Rolle lässt Wilkes Rassismusentwicklung zufallen, indem er sie zum Teil von Dirks innerem Kampf macht. Da Dirks ursprünglicher Beweggrund sich in die Geflüchtetenhilfe einzubringen nicht die Geflüchteten sondern Maria war, wird er an der Stelle auch nicht unglaubwürdig. Auch Cornelius bekommt eine sehr kurze Episode dieser Art, hier erhält Wilkes die Glaubwürdigkeit seines Charakters, indem es wohl wirklich nur nach einem Ausrutscher im Affekt aussieht. Mir persönlich ist Dirks Entwicklung zwar irrational, aber unsere Zeit zeigt, dass so einfache, vermeintliche Kausalketten durchaus Usus sind. Sie gerade in der Literatur zu behandeln ist wichtig, um ein Gefühl für die Irrationalität zu etablieren. Daher gefällt mir auch sehr, dass Wilkes die wechselnde Stimmung im Publikum auffängt und, was die Prognosen für den Prozessausgang angeht, der Nüchternheit der Journalisten gegenüber stellt.

Mit Blick auf den Ausgang des Buches bin ich sehr froh, dass Wilkes kein Drama egal welcher Art gewählt hat. Möglich wäre da ja viel gewesen, angefangen bei der Schuld Fersals bis zu einer Verurteilung trotz Unschuld. Gerade letzteres wäre durchaus denkbar gewesen, wenn denn die individuell zerstörerischen Folgen von Rassismus brutal in den Vordergrund gestellt werden sollten. Diesen Bruch hatte ich gerade bei Engman, da fand ich ihn im Nachhinein auch gut platziert. Trotzdem hinterlässt einen das so furchtbar hilflos, dass ich es wirklich nicht in jedem Buch zu dem Thema sehen möchte. Zumal es ein schmaler Grad ist, da die richtige Herangehensweise zu finden.

Alles in allem hatte ich viel Spaß mit Abgestürzt. Das Buch ist angenehm geschrieben und so aufgebaut, dass die Spannung nie abreißt. Und es lädt zum Nachdenken ein. Wäre da nicht Marias Schwangerschaft, hätte ich ihm volle 5/5 gegeben, so wären es 4,5.

Transparenzblock: Das Buch habe ich im Rahmen einer Buchverlosung über LovelyBooks als Rezensionsexemplar kostenfrei erhalten. Verpflichtungen (beispielsweise eine »wohlwollende« Rezension), abgesehen von Beteiligung an der Leserunde und eben einer Rezension, habe ich dabei keine. Meine Meinung über das Buch, die ich hier kund tue, wird dadurch nicht beeinflusst.

Transparenzblock: Diese Rezension ist auch auf meinem Profil bei yourbook.shop (Werbung) erschienen. yourbook.shop versteht sich als social bookstore und beteiligt seine User am Erlös aus Buchverkäufen, die u.a. auf ihre Rezensionen zurückgehen. Wenn du das Buch kaufen willst, würdest du mir eine Freude machen, wenn du es über meine dortige Rezension (Werbung) kaufst. Bedankt 🙂