Lesedauer5 Min, 15 Sek
Titel: Stadt der großen Träume
Autor*in: Fredrik Backman
Verlag: S. Fischer
Erschienen: 28.08.2019
Seiten: 508

Es braucht nicht viel, um sich richtig zu verhalten. Einfach nur alles. So könnte man Fredrik Backmans Soziogramm einer Kleinstadt, in der sich alles um einen Eishockey-Club dreht, zusammenfassen. Eine Reise an die Grenzen der eigenen Moral – schön, wie schmerzhaft, wie grausam.

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Ich starte ungewohnt. Denn die Inhaltsangabe wird zunächst der Klappentext im Wortlaut. Mein Problem ist, der ist inhaltlich extrem knapp und das Buch funktioniert wahrscheinlich unter anderem deshalb so gut. Allerdings kann ich es auf der Basis nicht rezensieren, ich werde also später gewaltig spoilern. Bitte, wenn ihr das Buch lesen wollt, überspringt die Spoiler. Stadt der großen Träume lebt erheblich davon, dass ihr mit einer gewissen Unbedarftheit dran geht.

In Björnstadt halten die Menschen zusammen. Ihre Devise ist: hart arbeiten, nicht beschweren und dem Rest der Welt zeigen, woher wir kommen. Das Leben hier war noch nie leicht, aber nun steht die Zukunft auf dem Spiel. Alle Hoffnungen liegen auf den Schultern ein paar junger Björnstädter. Noch ahnt keiner, dass sich ihre Gemeinschaft über Nacht für immer verändern wird.

So viel zum Klappentext. Man ahnt es schon, das kann alles sein. Und tatsächlich hatte ich, aus der Erfahrung mit Backmans früheren Romanen, auch etwas ganz anderes erwartet. Trotzdem, ich bin nicht enttäuscht, denn sein besonderer Stil, der mich in der Vergangenheit so sehr in seine Geschichten hineingezogen hat, der fehlt auch in Stadt der großen Träume nicht. Backman gibt sich sehr viel Mühe, ein literarisches Soziogramm von Björnstadt zu zeichnen tatsächlich besteht fast die komplette erste Hälfte des Buches aus nichts anderem. Zusammen mit seiner Art, Figuren und Szenen zu beschreiben, zieht er seine Lesenden damit tief hinein in dieses Björnstadt. Backman baut über einen lange Zeitraum eine Idylle des Alltäglichen auf, aus Gegenwärtigem und seinen Bezügen zur Vergangenheit, ohne dabei zu verklären. Mit Ecken, Kanten und allerlei eher unschönen Kerben. Und erinnert doch beständig daran, dass er diese Idylle einreißen wird. Besonders dieser Teil der Geschichte lebt von der Angst, dass es sie zu schlimm treffen könnte, dass sie daran zerbricht.

Lesedauer4 Min, 57 Sek
Titel: Miss Bensons Reise
Autor*in: Rachel Joyce
Verlag: S. Fischer
Erschienen: 30.12.2020
Seiten: 480

Zwei Frauen, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten, ein Käfer und die großen Lebensträume. Rachel Joyce mit einem schönen Entwicklungsroman über Freundschaft, Lebenswege und zwei außergewöhnliche Frauen in einer Zeit, in der Frauen vor allem nicht außergewöhnlich zu sein hatten.

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London nach dem Zweiten Weltkrieg. Es herrscht die Rationierung, der Krieg wirkt noch nach. Margery Benson, nur geringfügig jünger als das Jahrhundert, arbeitet als Hauswirtschaftslehrerin an einer Schule, ihre Schüler machen sie fertig. Als ihre Klasse sie mit einer bösartigen Karikatur über ihr Aussehen demütigt, ist Schluss. Margery verlässt die Schule, nicht ohne dabei ein paar Stiefel mitgehen zu lassen. Sie erinnert sich ihrer Liebe zur Naturkunde, die sie seit ihrer Kindheit hegte. Ursprünglich wollte sie Forscherin werden, wollte Expeditionen leiten, neue Arten entdecken. Der Goldene Käfer von Neukaledonien, den sie einst mit ihrem Vater in einem Kuriositätenbuch sah, rückt wieder in ihr Blickfeld. Sie beschließt, wenn sie die Expedition jetzt nicht durchführt, wird sie sie nie mehr durchführen. Margery beginnt mit der Planung, macht sich auf die Suche nach eine*r Assistent*in.
Da tritt Enid Pretty, 26, auf den Plan. Enid ist das exakte Gegenteil von Margery. Quirlig, modebewusst, mit Regeln und Gesetzen eher auf Kriegsfuß. Ihr Lebenstraum, Mutter zu werden, hat durch Fehlgeburten zahlreiche Rückschläge erlitten. Enid ist nicht Margerys erste Wahl, am Ende aber ihre einzige. Und obwohl Enid auch bei den nötigen Qualifikationen nicht ganz ehrlich war, entwickeln sich die beiden Frauen zu einem energischen Team.

Pünktlich zum Jahresende 2020 erschien Rachel Joyces Roman Miss Bensons Reise im deutschsprachigen Raum bei Krüger, einem Imprint von S. Fischer. Das Buch umfasst 480 Seiten, die sich in recht kurze Kapitel gliedern. Der Entwicklungsroman kommt in Form einer Art Coming-of-Middleage-Geschichte daher.

Lesedauer3 Min, 42 Sek
Titel: Die Diplomatin
Autor*in: Lucas Fassnacht
Verlag: Blanvalet
Erschienen: 23.09.2019
Seiten: 688

Weltweit eskalierende Unruhen, eine Wirtschaftsverschwörung enormen Ausmaßes und dazwischen eine EU-Diplomatin, ein indischer Journalist und ein brasilianischer Chauffeur, der plötzlich Regierungschef wird. Die Zutaten für ein Debüt mit gesellschaftlicher Aktualität.

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Ein Hashtag lässt die brodelnde Welt eskalieren: #killtherich. Von Brasilien aus breitet sich eine Welle von Massenprotesten aus, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat. Regierungen werden gestürzt, immer mehr Videos von gewaltsamen Übergriffen seitens Staatsmächten heizen die Stimmung an. Ein junger Chauffeur wird in Brasilien plötzlich zum Hoffnungsträger.
Conrada van Pauli arbeitet in leitender Position beim EAD, dem diplomatischen Dienst der EU. Als Expertin für Verhandlungen versucht sie, die zusammenbrechenden Staaten auf einen Kurs zu bringen, der Bürgerkriege verhindern könnte. Doch sie hat mächtige Gegner nicht nur in den Regierungen, auch die Wirtschaft zieht hinter den Kulissen ganz eigene Fäden.

Die Diplomatin ursprünglich erschienen als #killtherich ist der Debütthriller von Lucas Fassnacht und um das gleich mal vorweg zu nehmen, weil ich nachher einiges kritisieren werde, als rein fiktionaler Thriller ist das Buch wirklich ziemlich super. Fassnacht strickt, ausgehend vom rechtsdriftenden Zustand der Welt und dem zunehmenden Ungleichgewicht zwischen arm und reich, ein dystopisches Szenario eskalierender globaler Unruhen. Dabei lässt er zahlreiche oft kurze Handlungsstränge aufeinander zu laufen, um die unterschiedlichen Reaktionen der Staaten sichtbar zu machen. Im Verlauf des Buches rücken so immer wieder neue Figuren unterschiedlich lange ins Zentrum des Geschehens. Eine beständige Rolle nehmen dabei Conrada van Pauli und der indische Journalist Bimal Kapoor ein sie für den Handlungsstrang der Unruhen, er für den der Wirtschaftsverschwörung. Die beiden sind wohl auch die Figuren, denen Fassnacht die meiste Tiefe verleiht. Über Rückblenden auf ihre Vorgeschichten versucht Fassnacht das für weitere Figuren aufzufangen, stellenweise gelingt ihm das auch recht gut.

Lesedauer3 Min, 61 Sek
Titel: Wut
Autor*in: Bob Woodward
Verlag: Hanser
Erschienen: 16.10.2020
Seiten: 490

Zweiter Teil von Bob Woodwards Abrechnung mit Donald Trumps Präsidentschaft. Im Zentrum sein Verhältnis zu Nordkorea, China und die Covid-19-Pandemie. Authentisch, nah und fast schon nicht mehr erschreckend.

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Das ist er also, der zweite Teil von Bob Woodwards Begleitung der Präsidentschaft Donald Trumps. Besonders, weil ein Unterschied zum ersten Teil Furcht, beruhte damals noch alles höchstens auf Informationen aus dem Umfeld des Präsidenten, so ließ sich Trump für dieses Buch nun auch selber interviewen. Wohl auch, um sein Bild ins rechte Licht zu rücken was man wohl als übermotiviert und erwartungsgemäß gescheitert betrachten darf. Trotzdem wird der Einblick durch die O-Töne noch mal um einiges besser. Auch wenn die oft ziemlich weh tun. Körperlich.

Auch wenn sich Wut im Kern weitgehend um den Nordkorea-, den China-Konflikt und die Covid-19-Pandemie dreht, beginnt Woodward das Buch im November 2016, also zu Zeiten des President-Elect Donald Trump. Woodward zeichnet dabei insbesondere die Wege von James Mattis, Rex Tillerson und Dan Coats ins Kabinett des künftigen US-Präsidenten nach. Was sie trieb, wie sie sich überzeugen ließen und welche persönlichen Konflikte dabei auftraten denn solche gab es durchaus. Hier geht er dem Reportageformat entsprechend sehr neutral mit den einzelnen Beteiligten um. Das ist vom journalistischen Standpunkt her gut, trotzdem muss ich es kritisieren, weil insbesondere diejenigen, die von Trump selber überzeugt sind, dabei zu unkritisch wegkommen, während Woodward später mit diesem journalistischen Anspruch hadert. Dazu unten mehr.

Was mit Wut tatsächlich wieder gut gelingt, ist die Abbildung des organisatorischen Chaos' der Präsidentschaft. Die schließt sich nahtlos an Furcht an, wo sie im Fokus lag. Woodward fängt den verzweifelten Kampf insbesondere des DNI Dan Coats glaubhaft und ziemlich mitreißend ein, wenn er schlicht versucht, seinen Job nach seinen persönlichen Maßstäben zu machen, dabei aber ständig aus der Ecke behindert wird. Die persönliche Verzweiflung ist mit Händen greifbar.

Lesedauer4 Min, 36 Sek
Titel: Kissing Chloe Brown
Autor*in: Talia Hibbert
Verlag: Ullstein
Erschienen: 30.11.2020
Seiten: 400

Zwei Menschen, beide auf ihre Weise sehr vorbelastet, finden und retten sich. Eine Liebesgeschichte mit besonderem Augenmerk auf Diversität von Bestsellerautorin Talia Hibbert.

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Romance also. Das ist normalerweise so überhaupt nicht mein Genre. Dass ich im Falle von Talia Hibberts Kissing Chloe Brown eine Ausnahme gemacht habe, liegt an ihrer Genre-Selbstbeschreibung: Sexy Diverse Romances. Divers macht für mich den Unterschied und dass Hibbert nicht nur eine Schwarze Autorin ist, sondern darüber hinaus mit Fibromyalgie bei Chloe über eine Krankheit schreibt, unter der sie selber leidet, kommt als Entscheidungshilfe noch obendrauf. Kissing Chloe Brown ist dabei der erste Teil einer Trilogie um die Brown-Schwestern Eve, Dani und eben Chloe. Jeder Band dreht sich um eine der drei Schwestern, der erste um Chloe.

Chloe Brown also. Chloe ist eine junge Schwarze Frau aus gutem Hause. Allerdings hat es das Leben bei Weitem nicht so gut mit ihr gemeint, wie das jetzt klingt. Sie hat Fibromyalgie, lebt also u.a. mit chronischen Schmerzen, und kommt in diesem Zusammenhang aus einer toxischen Beziehung. Ihr Leben hat sie umgekrempelt, lebt jetzt alleine in einer kleinen Wohnung. Als sie eines Tages fast überfahren wird, fasst sie einen Entschluss: Eine Liste der Dinge, die sie machen will, um der Mensch zu werden, der sie eigentlich sein will.

Da kommt unerwartet der Künstler und Hausmeister ihres Wohnblocks Red Morgan ins Spiel. Auch er macht gerade nicht die beste Phase seines Lebens durch, auch er kommt aus einer toxischen Beziehung. Mit seinem künstlerischen Schaffen klappt es nicht mehr und ganz allgemein geht es mit ihm eher bergab als bergauf. Chloe und er fallen sich zwar auf, die Begegnungen beschränken sich zunächst aber auf beißende Abweisung seitens ihr. Bis die beiden merken, dass sie gut füreinander sind.

Lesedauer2 Min, 58 Sek
Titel: Sophia, der Tod und ich
Autor*in: Thees Uhlmann
Verlag: KiWi
Erschienen: 07.09.2017
Seiten: 320

Thees Uhlmanns Romandebüt ist ein schöner, melancholischer, witziger, trauriger Roadtrip mit dem Tod, der Mutter und der großen Liebe. Ein Buch, das das Leben feiert und dem Tod den Schrecken nimmt.

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An der Tür des Erzählers klingelt es, davor steht der Tod. Die Zeit des Erzählers ist gekommen, doch etwas geht schief. An der Schwelle zum Jenseits tobt ein Kampf um die Stelle des Todes und der Erzähler steckt ungewollt plötzlich mittendrin. Gemeinsam mit seiner Ex-Freundin, mit der er nie ganz abgeschlossen hat, und dem Tod beginnt er einen Roadtrip zu seiner Mutter und seinem Sohn. Es steht viel auf dem Spiel, nicht weniger als das Jenseits der ganzen Menschheit.

Sophia, der Tod und ich ist das Romandebüt des Musikers Thees Uhlmann. Als Musiker gehört er fest zu meinem Unterhaltungsrepertoire, auf dem Wege bekam ich auch deutlich verspätet mit, dass er in Buchform schreibt. Sein zweites Buch über die Toten Hosen gab es irgendwann mal als Hörbuch bei Spotify, das hat mit stilistisch ziemlich begeistert (er ist auch ein ganz wunderbarer Vorleser für seine Texte). Da lag es nah, sich auch mal seinem Roman zu widmen. Was sich keinesfalls als Fehler erweisen sollte.

Der nicht näher benannte Erzähler männlich, um die 40, ein Sohn, zu dem er aber nur einseitig über tägliche Postkarten Kontakt hat, Altenpfleger und ansonsten in seinem Leben relativ gescheitert, das aber wenigstens in beißendem Zynismus wird also mit seinem unmittelbar bevorstehenden Tod konfrontiert, der einen Hauch weniger unmittelbar auf unbestimmte, aber absehbare Zeit verschoben werden muss. Von nun an fristet er sein Leben gemeinsam mit dem Tod tot, sehr alt, stilvoll, unterhaltsam, Mutters Liebling und vom Karriereende bedroht , denn ein kosmischer Jux besagt, dass stirbt, wer weiß, dass er der Tod ist und sich weiter als 400m von ihm entfernt etwa. Aus dem gleichen Grund muss des Erzählers Ex-Freundin und große Liebe Sophia ebenfalls um die 40, polnischer Abstammung, wunderschön und noch beißender zynisch sich dem kuriosen Paar anschließen und später auch des Erzählers Mutter. Es bildet sich eine Gruppe sehr unterschiedlicher Charaktere, die aber eine meist urkomische Kombination ergeben.

Lesedauer2 Min, 70 Sek
Titel: 2024 – Singularity
Autor*in: Matt Javis
Verlag: Indie
Erschienen: 12.12.2019
Seiten: 301

Ein Debüt, das Lust auf mehr macht. Matt Javis' spannender Beitrag zum boomenden Genre der KI-Techromane und -thriller geht eigene Wege und stellt Fragen, die heute schon behandelt werden müssten.

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Lou und seine Mitbewohner*innen bilden eine szenetypische Tüftler*innen-WG in Pasadena, Kalifornien. Künstliche Intelligenz ist insbesondere sein Thema, hier ist der junge Mann Experte. Nachdem Tarja einzieht, wird die WG plötzlich brutal überfallen. Die Neue scheint überraschend vorbereitet und flüchtet gemeinsam mit Lou. Schnell wird klar, dass Lous KI-Forschung ins Visier staatlicher und wirtschaftlicher Interessensgruppen gelangt ist und er sich mit mächtigen Gegner*innen befassen muss.

2024 Singularity ist mir irgendwo zwischen LovelyBooks und mojoreads begegnet. Der Techroman markiert das Romandebüt des Physikers und Softwareentwicklers Martin Kreyscher unter dem Pseudonym Matt Javis. Das Buch erschien im Selbstverlag, was sicher nicht an seiner Qualität lag.

Spannend und etwas gewöhnungsbedürftig fand ich gleich im ersten Teil der Handlung die Zeitsprünge. Zu Beginn hatte ich das Buch nebenbei gelesen, so dass ich zwischendurch Gefahr lief, den zeitlichen Überblick zu verlieren. Das gibt sich aber recht schnell und die Kontinuität der Erzählung leidet kaum unter den zeitlichen ›Lücken‹ in der Handlung. Spätestens, bis die Handlung Fahrt aufnahm, war ich in der Geschichte drin.

Vernachlässigt hat Javis für mich ein wenig seine Figuren. Lou bekommt Tiefe, das lässt sich kaum vermeiden, schließlich begleitet der Großteil des Romans ihn. Bei Tarja wird es schon weniger, obwohl auch sie viel mit im Mittelpunkt steht. Alle anderen Figuren, inkl. Markov, bleiben leider etwas blass. Insgesamt hatte ich öfter das Gefühl, ein paar mehr Seiten hier und da hätten durchaus noch sein können. Ein häufiges Phänomen bei selbstverlegten Büchern, das nicht selten auf den Druckkosten fußt. Insofern möchte ich das nicht überbewerten, da muss man halt den Spagat zwischen Handlung und marktverträglichem Preis finden und das ist nicht unbedingt einfach.